„Wo fahrt ihr hin?“ – „Nach Norden.“ „Ja, aber wohin genau?“ – „Nach Norden.“ So laufen viele Gespräche vor der Reise. „Norden“ ist in diesem Fall nämlich nicht nur eine Himmelsrichtung, sondern auch der Name einer Stadt in Ostfriesland. Von Bayern aus fährt man gute sieben Stunden, dementsprechend meine Laune, als die Autobahn gesperrt ist und wir auf die Landstraße ausweichen müssen. Es dauert nicht lange, schon bin ich froh darüber. Denn sonst würden wir die schönen Baumalleen und die kleinen, roten Backsteinhäuser im Abendlicht verpassen.
„Warum kommt ihr zu dieser furchtbaren Jahreszeit?“ Das sind die Begrüßungsworte der Pensionsinhaberin, die verständnislos den Kopf schüttelt. Ja, warum sollte man im Winter an die Nordsee fahren? An der Küste herrschen oft hurricaneartige Zustände und die Zeitfenster zwischen den Regenschauern sind klein und unberechenbar. Wir sind zu Besuch da, ein Freund ist kürzlich hergezogen. Außerdem gibt es im Winter etwas Besonderes: Vögel, flächendeckend, so weit das Auge reicht, viele, viele Vögel.
Auf dem Bild oben hat ein Landwirt Fuchsattrappen aufgestellt, um die gefiederten Meuten von seinen Feldern fernzuhalten, mit mäßigem Erfolg, wie man sieht. Die meisten Vögel auf dem Foto sind Weißwangengänse. Sie brüten im Sommer in arktischen Regionen unter anderem in Spitzbergen. Im Winter ziehen sie in südliche Gefilde. Andere Zugvögel, die im Winter an der Nordsee antrifft, sind Graugans, Eiderente oder Wanderfalke. Daneben gibt es heimische Küstenvögel, die das ganze Jahr über da sind. Zum Beispiel gibt es da die kleinen Rotschenkel, die, wie der Name schon sagt, rote Beine haben, oder den großen Brachvogel mit dem langen gebogenen Schnabel.
Reisetipp: Für gestochen scharfe Nahaufnahmen von wildem Getier ist eine professionelle Fotoausrüstung zu empfehlen. Bei der Gelegenheit sei gesagt: Liebe Fotoindustrie, falls ihr mal jemanden braucht, der eure Teleobjektive testet, also die ganz großen Röhren, melde ich mich freiwillig. Bis dahin muss ich wohl mit meinen 300 mm Brennweite zurechtkommen. Den zutraulichen Möwen sei Dank sind mir doch noch ein paar scharfe Aufnahmen gelungen.
Fun-Fact: Möwen trippeln auf der Stelle, um Regenwürmern Regen vorzutäuschen. Kommen sie daraufhin an die Oberfläche, werden sie gefressen. Manche Möwen lassen andere Möwen die Arbeit machen, um ihnen den Wurm dann einfach wegzunehmen.
Auch im Februar bietet sich ein Spaziergang an der Nordseeküste an. Die historische Gegend um die Stadt Norden heißt übrigens Norderland. Die Graslandschaft im Winter hat ihren ganz eigenen Charme. Warm anziehen, Mütze aufsetzen und Regenjacke auf keinen Fall vergessen!
Norderland liegt direkt am Wattenmeer. Diese, von Gezeiten gestaltete Landschaft, ist weltweit einzigartig und produziert im Jahr etwa so viel Biomasse wie ein tropischer Regenwald. Da das Wattenmeer so viel Nahrung bietet, ist es ein Dreh- und Angelpunkt für den Vogelzug. Tiere aus Skandinavien nutzen es als „Energietankstelle“, um dann in wärmere Gefilde weiterzureisen. Was wäre ein Besuch an der Nordsee ohne Wattwanderung? Also, unbedingt die Gummistiefel einpacken!
Wenn man eine ungeführte Wattwanderung macht, sollte man sich nicht zu weit von der Küste entfernen. Die Flut kommt schneller zurück, als man denkt und ganz und gar nicht gleichmäßig. Ich habe mir sagen lassen, Touristen würden oft zwischen den Prielen, den Wasserströmungen, gefangen und stünden schon bis zur Brust im Wasser, wenn die Rettung eintrifft. Zum Glück hatten diejenigen ein Handy dabei.
DER Wattvogel schlechthin ist der Austernfischer. Bei Ebbe stapft der sogenannte „Halligstorch“ über den Wattboden und zieht mit seinem Schnabel die Wattwürmer aus ihrem Versteck.
Fun Fact: In Anlehnung an die „Big Five“ in Afrika (Elefant, Nashorn, Büffel, Löwe, Leopard) hat sich die Nationalparkverwaltung für das Wattenmeer eine „Small Five“ ausgedacht. Dazu gehören Wattwurm, Herzmuschel, Strandkrabbe, Wattschnecke und Nordseegarnele.
Jahrmillionen altes Baumharz wird zu – spätestens seit Jurassic Park weiß es jeder – Bernstein. Irgendwann sind diese fossilen Wälder überflutet worden und der Bernstein ist in der Nordsee gelandet. Das orange Ding, das vor mir im Schlick liegt, halte ich zunächst für ein angeschwemmtes Plastikstück. „Schaut mal, Bernstein!“, rufe ich im Spaß. „Quatsch“, sagen meine Begleiter erst, doch dann gucken sie etwas neidisch. Tatsächlich! Bernstein! Ein Klumpen so groß wie ein 2-Euro-Stück. Hier hatte ich doppelt Glück, denn es hätte sich auch um Phosphor handeln können von Brandbomben aus dem Zweiten Weltkrieg. Das sieht ähnlich aus, ist aber leicht entzündlich und führt zu schweren Verbrennungen.
Auf dem Rückweg gibt es Graugänse so weit das Auge reicht. Angeblich waren da auch einzelne Brandenten, das haben die Jungs gesagt. Ich habe sie nicht gesehen, leider. Das auffällige weiß-braun-grüne Tier hat nämlich Sonderstatus. Man konnte noch nicht genau klären, ob es eine Ente oder eine Gans ist. Die Brandente weist nämlich Charakteristika von beiden auf.
Fun Fact: Die Brandente ist ein Höhlenbrüter. Dazu nutzt sie manchmal einen Fuchsbau. Der Fuchs, sonst ein natürlicher Feind, lässt sie gewähren. Man sagt: Im Bau herrscht Burgfrieden.
Das Hilgenriedersiel ist Marschland, das heißt, es liegt auf der Höhe des Meeresspiegels und wird ab und zu überschwemmt. Deshalb bleibt das angeschwemmte Gras an den Stacheldrahtzäunen hängen und wiegt sich im Wind – ein schönes Fotomotiv. Zunächst haben wir aber genug von der steifen Brise, dazu knurrt der Magen. Es wird Zeit für einen Besuch im Stadtzentrum Nordens.
Zu den Dingen, die mir in Nordens Fußgängerzone auffallen, gehören Holzschuhe, Tulpen und Windmühlen – die Nähe zur niederländischen Grenze ist nicht zu verleugnen. Norden ist die Heimat des Doornkaat, eines ostfriesischen Korns mit 38 Prozent Alkohol. Am Ortseingang steht als Denkmal eine riesige Doornkaat-Flasche. Es gibt viele schöne Souvenirs, zum Beispiel Deko-Kunst aus Treibholz. Dann bemerke ich, dass die Nordländer ihren Humor offener zur Schau stellen, als es zum Beispiel die Bayern tun. Über dem Caféeingang steht: „Original ostfriesischer Apfelstrudel aus geklauten Äpfeln“, über der Bäckerei steht „Hereingeknuspert“ und in der Metzgerei gibt es „Wattwürmer“. Ach ja, wenn jemand Ostfrieslands Bäume sucht, findet er sie auf dem Marktplatz in Norden.
Der Magen knurrt immer lauter und wir begeben uns auf Nahrungssuche – keine einfache Angelegenheit, der frühe Nachmittag in der Nebensaison scheint für die Gastronomen nicht sehr rentabel zu sein. Die meisten Lokale sind bereits geschlossen. In einer kleinen Nebengasse werden wir fündig: Speicher No 77 ist ein gemütlich-modernes Restaurant mit hohen Decken, farbenfroher aber unaufdringlicher Kunst und einer freundlichen Bedienung, die unsere Bestellung auch kurz vor Schluss noch freundlich aufnimmt. Den Koch kann man bei der Arbeit beobachten und er muss sich wirklich für nichts schämen, der Rotbarsch ist einwandfrei zubereitet.
Ein „Must-do“ für Besucher in Norderland ist ein Besuch in der Seehundstation Norddeich. Schaut man durch die Glasscheibe in die Becken, stellt sich sofort der „Oh, wie süß!“-Effekt ein. Verwaiste Jungtiere, sogenannte „Heuler“ und schwache, erwachsene Tiere werden dort aufgepäppelt, um sie später wieder auszuwildern.
Im Museum erfährt man zum Beispiel, was der Unterschied ist zwischen Seehund und Kegelrobbe. Letztere ist übrigens mit bis zu 300 Kilogramm, das größte Raubtier Europas. Übrigens legen Kegelrobben und Seehunde ihre Jungen am Strand ab, wie Rehe ihre Kitze in die Wiese. Oft meinen Leute, die Tiere seien verwaist und rufen Hilfe. Meist kommt jedoch die Mutter zurück und das Beste, das man machen kann, ist Abstand halten, um sie nicht zu erschrecken.
Neben den vielen Infotafeln, einem Seehundpräparat zum Streicheln und vielen interaktiven Lernstationen, kann man täglich beim Füttern der Seehunde zusehen. Falls man es nicht rechtzeitig schafft, ist der schönste Platz im Besucherraum die Unterwasserglasscheibe. Dort kann man beobachten wie filigran und geschickt die kleinen Dickerchen im Wasser sind.
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