„Wo zum T** ist Karakalpakistan?“, frage ich mich, als ich zum ersten Mal von der Region höre.  Jedenfalls hat es nichts mit Pakistan zu tun. Wikipedia erklärt: Karakalpakistan, amtlich Republik Karakalpakistan ist eine autonome Republik im Westen Usbekistans am Aralsee. Sie hat um die 1.7 Mio Einwohner und eine Fläche von 164.900 km². Die Hauptstadt ist Nukus.  Wo genau das „autonom“ herkommt, kann mir niemand sagen, denn die Region untersteht genauso der usbekischen Regierung (aka Islom Karimov) wie der Rest des Landes.

Oktober 2013. Nachdem meine Recherchen zu Usbekistans erster und einziger Tierschutzorganisation in Tashkent abgeschlossen sind, steige in den 24-Stunden-Zug nach Nukus – natürlich nicht ohne Vorbuchung. Im Gegensatz zu den Kirgisen mögen die Usbeken spontanes Buchen überhaupt nicht.

Diesmal fahre ich „Platzkart“, billigste Klasse (in der Transsibirischen Eisenbahn war es zweite Klasse). Im Großraumabteil kommt eine Art Schullandheimgefühl auf, gemütlich kuschlig zwischen all den Einheimischen. Ich bin die einzige Touristin und trotz meiner stümperhaften Russischkenntnisse, sind viele Leute neugierig und wollen sich unterhalten. Mit Händen, Füßen und Wörterbuch lerne ich meine Sitznachbarn kennen. Sogar der Schaffner kommt öfters vorbei, lädt mich auf eine Zigarette ein und versichert mir immer wieder, dass die Leute in Karakalpakistan ein „Sierza choroschi“ haben, ein gutes Herz.

Natürlich gibt es den für Zentralasien üblichen Small Talk: „Bist du verheiratet? Hast du Kinder?“ – ich verneine. Betroffene Blicke und die Frage: „WIE alt bist du?“ Wenn man hier mit über 30 nicht verheiratet ist, dann ist man eine alte Jungfer und ein hoffnungsloser Fall. Als ich den Leuten versichere, dass das in Europa normal ist, sagen sie zwar „Aha“, aber in ihren Gesichtern erkennt man, dass sie gerade etwas denken wie „Verrücktes Europa. Die sterben bald aus!“

In Nukus finde ich zufällig das Hotel Jipek Joli (übersetzt: Seidenstraße), ein Glücksgriff, wie sich herausstellt. Die Zimmer inkl. Frühstück sind mir für 30 USD zwar viel zu teuer, aber zum Glück steht im Hof des alten Hotelgebäudes (das Neue steht eine Straßenecke weiter) eine karakalpakische Jurte, die es schon für 15 USD pro Nacht gibt. Ab und zu zahlt sich das Spontankonzept eben aus.

Info: Die Usbeken sind eigentlich kein Nomadenvolk. Die Karakalpaken haben aber einen anderen Kulturhintergrund als der Rest des Landes und waren tatsächlich Nomaden, wie die Kirgisen und die Kasachen. Deshalb gibt es dort auch Jurten.

Zusammen mit einem australischen Pärchen besuche ich das Savitsky Museum (Foto oben), eine weltweit anerkannte Kunstsammlung, die viele Liebhaber in das sonst unspektakuläre Städtchen Nukus zieht. Der Künstler und Archäologe, Igor Savitsky, hat die Sammlung aus Gemälden und Handarbeiten von usbekischen und russischen Künstlern in den 1950er Jahren angelegt. Es heißt, das Museum sei „eine Perle in der Wüste“ und ich kann dem nur zustimmen. Was moderne Kunst betrifft, habe ich selten eine interessantere Ausstellung betreten. Einziger Haken: Die Erlaubnis zum Fotografieren ist sündhaft teuer. Deshalb nur ein Foto von außen.

Wie in jeder zentralasiatischen Stadt gibt es auch in Nukus einen Basar. Dort kann man seine Dollar in usbekische S’om wechseln (bei den netten Männern mit den Plastiktüten), Lebensmittel einkaufen und einen Fahrer für Überlandtouren finden.

Meinen Fahrer zum Aralsee habe ich nicht auf dem Basar gefunden, sondern bin dazu gekommen wie die Jungfrau zum Kind. Eigentlich hatte ich die Tour aus finanziellen Gründen schon abgeschrieben. Da man für den Transport ein Allrad-Fahrzeug braucht, sind die Trips recht teuer und kosten je nach Reiseveranstalter mehr als 1000 Dollar. OrexCA bietet zum Beispiel eine „Shrinking Aral Sea Tour“ an und ist noch eine der günstigeren Agenturen. Zufällig bin ich mit einem anderen Hotelgast ins Gespräch gekommen, der schon gebucht hatte. Der hat sich natürlich gefreut, dass er die Kosten teilen kann. Am Ende waren wir zu dritt und die 2-Tages Tour mit Übernachtung im Zelt und Verpflegung hat mich genau 100 USD gekostet.

Wie die Karte oben zeigt, fahren wir von Nukus am Sudochie See vorbei zum Ufer des westlichen Aralsees. Am nächsten Tag geht es weiter zum ehemaligen Fischerdorf Muynak. Hier die Details der Tour:

Auf den ersten Blick scheint Karakalpakistan nur Wüste zu sein, schaut man aber genauer hin, dann sieht man alte Schlossruinen und historische Bauwerke (leider auch zwangsrekrutierte Baumwollpflücker und Bohranlagen für Erdgas).

Zuerst halten wir an einem alten Friedhof. Der Fahrer stellt die Musik ab. „Aus Respekt vor den Toten“, sagt er. Der Friedhof sieht für mich aus wie ein heilloses Durcheinander: Manche Gräber sind umzäunt, dazwischen stehen höhere Bauwerke und weiter hinten liegen großflächig viereckige Steine gestapelt. Um die Kapelle zu besichtigen, muss man Eintritt zahlen. Dem Adlerauge des Friedhofwärters entgeht kein einziger Besucher. Kaum hat er das Geld kassiert, legt er auch schon los mit einer Führung über den ganzen Friedhof. Leider spricht keiner von uns Russisch und wir können nur ahnen, was er uns gestikuliert.

Nach dem Friedhof, kommen wir zu einer alten Schlossruine, die nicht aussieht wie eine Ruine, sondern eher wie ein besonders welliger und zerfurchter Erdhügel. Ich klettere darauf herum und erschrecke mich ein bisschen, als plötzlich in einer der Erdfurchen Leute stehen. Die Jugendlichen sprechen Englisch und erzählen, dass sie aus Tashkent kommen und gerade einen Ausflug machen. Sie hätten hier draußen übernachtet, in die Stadt wollen sie nicht. Auf den ersten Blick sind es vier Mädchen, eine davon besonders groß mit besonders männlichen Zügen. Ich verabschiede mich, aber als ich zum Auto zurück gehe, frage ich mich, ob sie wegen des Transvestiten die Stadt meiden. Homosexualität ist in Ländern der ehemaligen Sowjetunion verpönt und provoziert Gewalt.

Die Fahrt zur Küste des Aralsees dauert etwa 6 Stunden und führt über holprige, staubige Straßen. Wir sitzen in einem UAZ, einem russischen Jeep, der wegen seiner simplen Bauweise beinahe unzerstörbar ist. Leider wurde auch an Komfort gespart und wir spüren unsere Hintern schon bald nicht mehr. Als Entschädigung werden wir immer wieder mit einer interessanten Aussicht belohnt: hier ein Canyon, da ein See, dort eine alte Flugzeuglandebahn.

Als wir an der Küste ankommen, bin ich überrascht. Der Aralsee ist nicht die braune, dreckige Brühe, die ich mir vorgestellt habe, sondern sieht aus, wie ein ganz normales Meer, tiefblau und augenscheinlich sauber. Einer der Touristen, der Schwede Pelle, zieht sich kurzerhand eine Badehose an und läuft zum Wasser. Sein Reiseveranstalter hat ihm versichert, schwimmen sei Teil des Tourprogramms. Am Strand versinkt er knöcheltief im Matsch. Das Wasser zieht sich nämlich so rapide zurück, dass der Seeboden keine Zeit hat, trocken zu werden (etwa 50 Meter pro Jahr). Der Matsch ist bedeckt von Muscheln, die nicht angespült wurden, sondern einfach liegen geblieben sind.

Nach einem kurzen Strandspaziergang fahren wir zurück zu den Klippen und schlagen dort unsere Zelte auf. Vor dem Abendessen ziehe ich noch einmal alleine los. Die Landschaft ist karg und vollkommen still. Man hört keine Spur von Leben, kein Grillenzirpen, kein Vogelzwitschern, nicht mal Wind. Die Klippen und das Wasser leuchten in der Abendröte und irgendwie hat diese scheinbar tote Gegend ihren Charme. Die Atmosphäre empfinde ich als melancholisch, denn das Meer, vor dem ich stehe, könnte schon in 10 Jahren komplett verschwunden sein.

Die melancholische Stimmung ist schnell weg, als eine Flasche Wodka auf der Picknickdecke steht. Der Tourguide, der mit einer anderen Touristengruppe gekommen ist, spricht fließend Englisch und übersetzt für den Fahrer. Er sagt erst auf Russisch, dann auf Englisch:  „Den Wodka müsst ihr probieren, der wird hier in der Gegend gemacht.“ Zum Spaß schlage ich vor: „Lass uns doch auf Sapoi gehen!“ Das Wort „Sapoi“ haben mir die Russen in Bischkek beigebracht. Es entspricht dem englischen „hair of the dog“ und meint, dass man über mehrere Tage hinweg permanent betrunken ist. Die beiden kugeln sich vor Lachen. Da kann sie kein Russisch und kommt schon mit Sapoi daher. Als sich unser Guide wieder erholt hat, grinst er: „Unglaublich, dass du das kennst! Das sollst du haben. Morgen lade ich dich ein.“

Am nächsten Tag durchqueren wir die Salzwüste um Muynak zu besuchen. Das ehemalige Fischerdorf lag früher auf einer Insel im Süden des Sees, es gab eine Fischfabrik und einen Hafen, den etwa 500 Schiffe ansteuerten. Jetzt ist das Dorf mehr als 100 Kilometer vom Wasser entfernt. Alte Schiffe, die einst vor der Insel ankerten, liegen jetzt verrostet im Wüstensand. Sie scheinen sowohl Mahnmal zu sein, als auch Touristenattraktion. Es gibt eine Informationstafel auf Russisch und auf Englisch und zwei große Zeichnungen des Aralsees im Jahr 1960 und 2013. Kinder spielen auf den Wracks und bunte Graffiti an den Außenwänden zeugen von vielen Besuchern. Es gibt sogar ein Fischerei-Museum im Dorf, allerdings ist es an diesem sonnigen Oktobermorgen geschlossen – die beiden Angestellten sind beim Baumwollpflücken.

Unser Tourguide hält sein Versprechen. „1001 Nights“ heißt das Lokal, in das wir gehen, als wir wieder zurück in Nukus sind. Ich bin mir nicht sicher, ob es ein Restaurant oder eine Disco ist, zwar gibt es feine Kellner mit Weste und Krawatte, aber es gibt auch einen 90er Jahre Dancefloor mit bunten Fliesen und eine Discokugel. Ein DJ legt russische Charts auf und ich werde von den Usbeken auf die Tanzfläche gezerrt.  Dass immer noch Wüstensand aus meiner Trekkinghose rieselt und ich die einzige Dame in Wanderschuhen bin, scheint niemanden zu stören.  Als wir wieder am Tisch sitzen, werde ich genötigt einen Toast auszubringen. Minutenlange Trinksprüche sind hier Tradition, aber nicht meine Art. Ich denke also kurz nach, hebe mein Glas und sage: „Karakalpakistan hat den besten Wodka der Welt!“ – Standing Ovations.

Reisetipp: Wenn man allein unterwegs ist, vor allem als Frau, dann empfiehlt es sich auf gar keinen Fall, mit Fremden Alkohol zu trinken. Das kann auch ins Auge gehen.

Der hier ging allerdings nur in den Kopf. Am nächsten Tag natürlich: Schädelweh. Nichtsdestotrotz mache ich noch einen kleinen Tagesausflug in ein Wildreservat, Baday-Tugai, das etwa eine Stunde südlich von Nukus am Fluss Amudarya liegt. Dort leben die seltenen Buchara Hirsche.

Die Details der Aralseegeschichte sind veröffentlicht auf Deutsch im Reisemagazin des Schweizer Treffpunkt Orient (Ein Tag am Aralsee) und auf Englisch auf Eurasianet.org (Dying Aral Sea Resurected as Tourist Attraction).