Große Kulleraugen, kleines Schnäuzchen – kaum jemand kann sich beim Anblick eines Seehundbabys das „Oh, wie süß!“ verkneifen. Die kindlichen Proportionen sind es, die beim Menschen einen Fürsorgeinstinkt auslösen. Aber gut gemeint ist nicht immer gut gemacht.
„Es kursieren haarsträubende Missverständnisse“, sagt Dr. Peter Lienau, Leiter der Seehundstation Nationalpark-Haus in Norden-Norddeich. Lienau berichtet: „Manche Leute übergießen den Seehund mit Wasser, wie einen gestrandeten Delfin.“ Ganz und gar unnötig sei es auch, das Tier ins Meer zu schubsen, denn im Gegensatz zu Walen und Delfinen haben Seehunde ein Fell und könnten theoretisch monatelang an Land leben. Die „Seehundstation Nationalpark-Haus“ ist ein Betreuungszentrum für Meeressäuger. Kranke und verwaiste Tiere werden dort wieder aufgepäppelt, um sie später auszuwildern.
Zwei Robbenarten leben in der Nordsee: Seehunde und Kegelrobben. Den Unterschied erkennt man zum Beispiel an der Kopfform: der Seehund hat eine Art Hundeschnauze, die Kegelrobbe hat – wie der Name schon sagt – ein kegelförmiges Profil. Auch in ihrer Größe unterscheiden sich die beiden Robbenarten: Kegelrobben sind mehr als doppelt so groß wie Seehunde, die Bullen bringen bis zu 300 Kilogramm auf die Waage. Unterschiede gibt es auch im Sozialverhalten: Seehunde sind Individualisten. Auch wenn 400 Tiere zusammen auf einer Sandbank liegen, ist das nur ein Zweckverband. Kegelrobben dagegen leben im Sozialverband. Während Seehundbabys hauptsächlich im Juni geboren werden, kommt der Kegelrobbennachwuchs im Dezember und Januar auf die Welt. Ein weiterer großer Unterschied: Während junge Seehunde ihren ersten Fellwechsel bereits im Mutterleib erleben, legen Kegelrobben das flauschige Geburtsfell, „Lanugo“ genannt, erst nach der Säugezeit ab. Solange müssen die Jungtiere an Land bleiben, denn ihr Fell würde sich beim Schwimmen mit Wasser vollsaugen, die Tiere würden ertrinken.
Während die Kegelrobbe als geschützte Art nur in der Größenordnung von einigen Hundert Exemplaren vertreten ist, leben derzeit 10.000 Seehunde im Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer – Höchststand seit Beginn der Flugzählungen in den 1970er Jahren. Gleichzeitig nehmen die Urlauberzahlen auf den ostfriesischen Inseln zu. Von 2009 bis 2014 sind die Besucherankünfte von Borkum bis Wangerooge um knapp sieben Prozent gestiegen, jährlich übernachten mehr als fünf Millionen Gäste, allein die Insel Norderney ist im Sommer regelmäßig ausgebucht. Kein Wunder, dass Begegnungen von Mensch und Seehund häufiger werden.
Die niedlichen Tierchen sehen hilfsbedürftig aus, daher wählen viele Feriengäste sogar den Polizei-Notruf 110. In den Sommermonaten treffen täglich etwa 20 Anrufe in der Leitstelle ein – Tendenz steigend, bestätigt Marco Ellermann, Pressesprecher der Polizeidirektion Osnabrück. Er erklärt: „Das ist problematisch, denn so werden die Leitungen besetzt und echte Notrufe kommen nicht mehr durch.“ Der Fund eines verwaisten oder kranken Tieres könne unter der Nummer 04931-973330 direkt bei der Seehundstation gemeldet werden. Die wiederum bemüht sich, Urlauber aufzuklären mithilfe einer Broschüre, die auf sämtlichen Fähren sowie in Hotels ausliegt. Sie trägt den Titel: „Seehund, was nun?“
Etwa 2000 junge Seehunde werden jeden Sommer geboren. Bei starken Gewittern oder Störungen durch Menschen kann es sein, dass sie von der Mutter getrennt und vereinzelt angespült werden. „Heuler“ nennt man so ein verwaistes Seehundjunges, weil es lauthals nach seiner Mutter ruft. Aber nicht jedes Jungtier, das alleine am Strand liegt, ist ein Heuler. Leiter der Seehundstation Dr. Peter Lienau erklärt: „Es können Jungtiere sein, die von ihren Müttern nur kurzfristig abgelegt wurden, ähnlich wie es Rehe mit ihren Kitzen machen.“ Daher sei es ganz falsch, neben dem Tier stehen zu bleiben und es zu bewachen, so verschrecke man die Mutter.
„Es ist schwierig zu differenzieren, wann ein Tier Hilfe braucht und wann nicht“, sagt Lienau, das zu beurteilen sei Aufgabe sogenannter Wattenjagdaufseher, denn Seehunde unterliegen dem Jagdrecht, sind aber ganzjährig geschont. Ein Jungtier mitzunehmen wäre dem Gesetz nach Jagdwilderei. Wird ein Heuler gemeldet, beobachtet das ehrenamtliche Fachpersonal aus der Distanz, ob die Mutter in der Nähe ist, im Fall von Kegelrobben manchmal tage- und nächtelang. Erst dann wird eingegriffen. „Ein engagierter Wattenjagdaufseher ist schon einmal während eines Schneesturms 24 Stunden lang auf Beobachtungsposten geblieben“, berichtet Lienau.
Inselbesucher sollten ausgewiesene Ruhezonen respektieren und auf das Fotografieren aus nächster Nähe, etwa mit dem Smartphone, verzichten, um die Tiere nicht zu stören. „Regelmäßige Nahrungsaufnahme ist für junge Seehunde lebenswichtig“, erklärt Lienau. Jungtiere werden vier bis sechs Wochen lang von der Mutter gesäugt und dann in die Selbstständigkeit entlassen, bis dahin sollten sie um die 20 Kilo wiegen. Schon bei fünf Kilo zu wenig, werden sie anfällig für Parasiten und sterben oft an Folgeerkrankungen.
Um die Energiereserven der Tiere zu schonen, sollte man Abstand halten, 300 Meter wären optimal, mindestens aber 50 – auch zur eigenen Sicherheit, warnt Lienau. Denn trotz des niedlichen Aussehens sind Seehunde Raubtiere mit scharfen Zähnen. Die Kegelrobbe ist sogar das größte Raubtier Europas, gefolgt von Braunbär und Seehund, dann erst kommen Wolf und Luchs. Lienau sagt: „Sie würden nie aktiv angreifen, allerdings können sie sich wehren, wenn sie sich bedroht fühlen.“ Ein Aufeinandertreffen mit einem freilaufenden Hund wäre für beide Tiere fatal. Daher gilt auf allen Inseln ganzjährig Leinenpflicht.
In der Seehundstation Norden-Norddeich befindet sich über das ganze Jahr verteilt etwa ein Prozent der gesamten Seehundpopulation des Wattenmeeres. Das Betreuungszentrum mit Umweltbildungsstation ist für Besucher geöffnet, durch eine Glasscheibe hindurch kann man die Schützlinge aus nächster Nähe betrachten. Wer Seehunde in ihrer natürlichen Umgebung sehen möchte, dem rät Lienau, an einer zertifizierten Nationalparkfahrt teilzunehmen. Diese Touren zu den Seehundbänken bieten alle großen Redereien an.
Kegelrobbenbaby Ernstel kam diesen Februar in die Seehundstation. Ernstel wird derzeit mit Lachsbrei und Hering aufgezogen, ist er stark genug, wird er wieder in die Freiheit entlassen.
Die Fotos wurden freundlicherweise zur Verfügung gestellt von der Seehundstation in Norden-Norddeich.
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