Sonnenstrahlen fallen durch das Jurtendach, aus dem Samowar steigt Dampf. Immer wieder zapft Gulmira Obolbekov heißes Wasser für die Teekanne. Obwohl sie sich mit uns unterhält, entgeht ihr nie, wenn sich eine unserer Teeschalen leert. Dann streckt sie die Hand aus, sammelt die Schale ein und schenkt nach. Gulmiras Outfit ist das beste Beispiel dafür, wie in Kirgisistan Tradition und Moderne koexistieren. Während die Kleidung der 53-Jährigen aus fortschrittlichem Funktionsmaterial besteht, sind das bunte Kopftuch und die Ohrringe Symbole der traditionellen Nomadenkultur. Auch wenn die Familie mittlerweile in einem gemauerten Haus lebt, so möchte sie nicht auf die Jurte im Garten verzichten. Die traditionellen Nomadenzelte sind ein fester Bestandteil der kirgisischen Kultur, die Kreuzstreben im Jurtendach prangen sogar auf der Landesflagge. Gulmira und ihr Mann Ishen sind selbst noch in einer Hirtenfamilie aufgewachsen, später haben beide als Englischlehrer gearbeitet. Ihre eigenen Kinder gehen in der Hauptstadt Bischkek zur Schule. Von ihren Wurzeln konnten sich die Obolbekovs jedoch nie trennen und haben das Familienunternehmen Shepherd’s Way Trekking gegründet. Seit 1994 führen sie Besucher aus der ganzen Welt zu den Hirten, die bis heute im Tian-Shan-Gebirge leben. Ishen erklärt: „Es ist ein Austausch. Wir zeigen die Berge, unsere Geschichte und Geografie. Gleichzeitig lernen wir von unseren Gästen über deren Kultur.“

Für uns hat das Bild eines Hirten etwas Romantisches. Sei es der Schäfer, der auf den Stock gelehnt über seine Herde wacht, der Senner, der auf der Alm die Kühe melkt oder der amerikanische Cowboy, der die Rinder vor sich hertreibt. Hirten gibt es in vielen Kulturen, doch nur selten sind sie ein so wichtiger Bestandteil der Landesidentität wie in Kirgisistan. Doch wer sind diese mysteriösen Hirten und was macht ihre Pfade so besonders? Es ist pure Neugierde, die uns in die Berge treibt, gewürzt mit ein wenig Abenteuerlust und der Liebe zur Natur.

Die Flügel des Menschen

„Pferde sind die Flügel des Menschen“ lautet ein Sprichwort der Kirgisen, denn ohne ihre Reittiere wären sie verloren im gewaltigen Tian-Shan-Gebirge. Wenn wir uns auf die Pfade der Hirten begeben wollen, dann müssen auch wir uns in den Sattel schwingen. Die Obolbekovs haben sich auf Pferdetrekking spezialisiert. Gulmiras Schwager Rash kümmert sich um die Pferde der Familie. Bereits mit zwei Jahren habe ihn sein Vater in den Sattel gesetzt, erzählt er. Wir sind beeindruckt. Die Kirgisen lernen reiten, noch bevor sie laufen lernen, ein wahres Reitervolk. Doch wie wird es uns ergehen? Während die erfahrenen Reiter in der Gruppe sich auf das Erlebnis freuen, haben die weniger erfahrenen Teilnehmer Respekt vor den Pferden. Würden sie scheuen und uns abwerfen, wäre der Weg ins nächste Krankenhaus ein langer und beschwerlicher.

Während wir unsere Rucksäcke packen – wetterfeste Kleidung, Reiseapotheke und Kameraequipment – werden auch die Pferde ausgerüstet. Bei den Stallungen nahe Barskoon bekommen sie nagelneue Hufeisen. „Die sorgen für besseren Grip bei steilen oder rutschigen Passagen“, erklärt Rash.

Tag 1. Pferdelift in die Einsamkeit

Als wir im Basecamp eintreffen, stehen unsere Pferde schon bereit. Manche dösen vor sich hin, andere scharren aufgeregt mit den Hufen. Wir staunen über den ursprünglichen Look der Sättel. Sie bestehen aus Holz und Ziegenleder, die Satteldecke aus handgefertigtem Filz, verziert mit kunstvollen Ornamenten. Die Sitzfläche ist gepolstert mit angenehm weichem Schafsfell.

Rash teilt die Pferde je nach Reiterfahrung zu. Kameramann und Fotograf Felix war noch nie auf einem Pferd gesessen. Er bekommt einen gutmütigen Braunen, die sattelfeste Lisa bekommt einen feurigen Schimmel. Er trägt den Namen Jeti-Oguz, benannt nach dem kirgisischen Dorf, in dem die Obolbekovs ihn gekauft haben. Wir lernen, dass Pferdenamen in Kirgisistan weniger nach kreativen, sondern eher nach pragmatischen Aspekten ausgesucht werden. Es geht darum, die vielen Tiere im Gespräch zu unterscheiden nach Farbe, Charakter oder eben Herkunftsort.

Unsere Karawane setzt sich in Bewegung. Wir sind zu neunt: Auf sechs Trekkingteilnehmer kommen drei Kirgisen: zwei Guides und ein Übersetzer. Aufgereiht wie an einer Perlenschnur, schlängeln wir uns zunächst durch eine mannshohe Blumenwiese. Das Gras kitzelt schon beinahe an der Nase. Im Vorbeigehen rupfen unsere Pferde immer wieder Büschelchen ab und kauen genüsslich vor sich hin.

horse trek through high grass

Anfangs reißt unsere Karawane oft auseinander. Hinten tönt es: „Shu, shu!“ Mit dem kirgisischen Kommando für Beschleunigung versucht Reitanfängerin Chrissi vergeblich, ihren müden Schimmel zum Aufschließen zu bewegen. Den temperamentvollen Pferden kann es vorne nicht schnell genug gehen. Fotograf Felix braucht beide Hände, um seine Kamera zu bedienen. Sein Pferd hat schnell begriffen, dass es für die Navigation alleine zuständig ist, und tanzt immer wieder aus der Reihe.

Trotz der Anfangsschwierigkeiten kommt keine Hektik auf, unsere Guides haben die Lage im Griff. Die Pferde sind mindestens genauso entspannt. Fliegt ein Vogel aus dem Gestrüpp, zucken sie nicht einmal mit der Wimper. Unsere Sorgen, dass sie scheuen und uns abwerfen könnten, zeigen sich bereits nach den ersten Stunden als unbegründet. Zuverlässig wie die Gondel in den Alpen funktioniert im Tian Shan der Pferdelift.

Vom Barskoon-Tal aus führt unser Pfad über eine Hochebene namens Tash-Kechuu, übersetzt „Steinige Querung“. Es ist beeindruckend, wie leichtfüßig unsere Pferde die steilen Felspassagen meistern. Jeder Huftritt sitzt. Gulmira hatte uns nicht zu viel versprochen, als sie von der grandiosen Trittsicherheit der kirgisischen Gebirgspferde schwärmte. Hügel für Hügel lassen wir hinter uns. Weit und breit sehen wir keine Menschenseele, dafür immer wieder Kühe, Schafe und Pferde sowie das umwerfende Panorama des Tian-Shan-Gebirges, das sich im Osten bis nach China erstreckt. Übersetzt aus dem chinesischen bedeutet der Name „Himmlische Berge“ – treffend, wie wir finden.  In der Abgeschiedenheit dieser unberührten Landschaft stellt sich wohltuendes Gefühl von Einsamkeit ein, ein Gefühl, das man im dicht besiedelten Europa vergeblich sucht.

Der Tag hatte sonnig begonnen, doch im Gebirge sind die Wettergötter launisch, hier gelten andere Regeln. Während wir von den Pferden steigen, um kurz Pause zu machen, ziehen dunkle Wolken auf. Plötzlich werden unsere sonst so ruhigen Guides nervös. „Los, nicht trödeln! Regensachen anziehen und ab ins Tal!“ heißt es dann. Ihre Erfahrung sagt ihnen, dass die Lage gleich haarig wird. Noch bevor die Reißverschlüsse unserer Regenjacken ganz geschlossen ist, beginnt es wie aus Eimern zu schütten, Donner schallt über die Bergkämme, gefährliche Blitze zucken am Himmel. In den Sattel lassen uns die Guides nicht mehr, die Pferde könnten auf dem nassen Gras ausrutschen und stürzen. Stolpernd und schlitternd führen wir sie am Zügel den Hang hinunter. Einige von uns landen fluchend mit dem Hintern im Matsch.

Im Camp erwartet uns bereits das Transportfahrzeug mit Zelten und Lebensmitteln. Über eine Kombination aus Versorgungsstraßen und Querfeldein-Etappen hat es der robuste russische UAZ-Geländewagen geschafft, vor uns anzukommen. Darüber sind wir froh, denn wir sehnen uns nach einem trockenen Plätzchen und etwas Warmem im Bauch. Auch wenn die Pferde die meiste Arbeit hatten, sind wir ausgehungert und erschöpft. Doch das Lager baut sich nicht von alleine auf.

Der Fahrer hat auch eine Köchin mitgebracht. Die 20-jährige Nargiza jobbt im Sommer bei Shepherd’s Way Trekking, um sich so das Studium zu finanzieren. Abends kreiert sie kirgisische Spezialitäten wie Lakman, Plov oder Beshbarmak, traditionelle Fleisch- und Gemüsegerichte mit Reis oder Nudeln als Beilage. Sowohl beim Kochen als auch beim Abwasch lehnt sie jede Hilfe ab. Es ist Teil der kirgisischen Tradition, dass man Gäste auf keinen Fall arbeiten lässt.

Nach dem üppigen Abendessen gibt es heißen Chai, den landesüblichen schwarzen Tee. Nun geht es uns wieder besser. Wir sind zwar hundemüde, doch ist heute die letzte Gelegenheit für ein Lagerfeuer. Morgen werden wir die Baumgrenze ein für alle Mal hinter uns lassen. Das einzige Problem: Trockenes Holz findet man nur im Wald oben am Hang. Mit letzter Kraft steigen wir hinauf und schleppen die Holzbündel ins Tal. Unsere Guides helfen und schon bald züngeln hohe Flammen durch die Nacht. Wir sind stolz auf unser Werk und genießen die Lagerfeuer-Atmosphäre. Gegen die Muskelschmerzen hilft der berühmte kirgisische Kognak. Es wird gelacht und geschäkert. Chrissi kann es kaum glauben, dass wir bereits mehr als 1000 Höhenmeter überwunden haben. Simon freut sich über die abwechslungsreiche Vegetation und Felix schwärmt von einem großartigen Freiheitserlebnis. Das Leben ohne Handynetz sei einfach so schön „back to the roots“.

Tag 2. Den Letzten beißen die Wölfe

Immer weiter hinauf führt der Pfad des Hirten. Immer weiter zurück lassen wir die zivilisierte Welt mit all ihren Zwängen und Pflichten. Wir fühlen uns winzig im Vergleich zu den mächtigen Bergrücken, die uns umgeben. Schon bald befinden wir uns jenseits der Baumgrenze, auf einer Hochweide namens Altyn Kungoy. Auch hier treffen wir zunächst niemanden außer dem üblichen Publikum. Aus sicherer Entfernung beäugen uns immer wieder scheinbar herrenlose Pferde. Zäune oder Ställe gibt es hier keine. Ob das Wildpferde sind?

Laute Rufe und Pfiffe tönen über den Hügel. Unsere Pferde spitzen die Ohren, wir auch. Die Guides verlassen kurzerhand den Pfad und führen uns in die Richtung, aus der die Rufe kommen. Sie ahnen was dort passiert und wollen es uns zeigen. Auf der Kuppe angekommen sehen wir, wie mehr als ein duzend Pferde in eine Senke galoppieren. Sie werden verfolgt von zwei Reitern, die rufend und pfeifend, kleine Peitschen durch die Luft wirbeln. „Sie treiben die Pferde hinunter zum Fluss. Dort sitzen sie in der Falle“, sagt Nurbek. Wildpferde seien es jedoch keine, sondern Eigentum der Hirten.

Als die Pferde tatsächlich nicht mehr weiterkönnen, nährt sich ein Kirgise zu Fuß. In den Händen hält er einen langen Stock, an dessen Ende eine Schlaufe hängt. Es ist eine Art Angel, die Kirgisen nennen sie „Okorok“. Aus einigen Metern Entfernung stülpt der Hirte einem Pferd die Schlaufe über den Kopf und zieht sie zu. Wie ein Wildpferd bäumt sich die Stute auf, ihr Fohlen steht hilflos daneben.

Unser Übersetzer erklärt: „Die Pferde haben sich den ganzen Sommer lang auf den Hochweiden ausgeruht. Sie sind ein bisschen wild geworden.“ Das Einfangen im Herbst sei jedoch notwendig. Angriffe durch hungrige Wölfe nehmen in der kalten Jahreszeit zu. Vor allem die Fohlen seien leichte Beute und müssten ins Dorf gebracht werden. Pferde sind wohl die wichtigsten Nutztiere in Kirgistan, ihr Wert liegt bei umgerechnet etwa 1000 Euro pro Stück, ein Vermögen in einem so armen Land. Die Hirten können es sich nicht leisten, auch nur eines der Tiere zu verlieren.

Auch unsere Reitpferde sind in den Bergen aufgewachsen. Nun wird uns klar, warum sie nie scheuen, warum sie immer die beste Stelle zur Flussüberquerung finden und, warum sie wissen, was bei Unwetter zu tun ist. Das macht sich bemerkbar, als wir noch am gleichen Tag in einen Hagelsturm geraten. Wie Nadelstiche schmerzen die erbsengroßen Hagelkörner, wenn sie auf Nase, Stirn oder Wangen einschlagen. Die Pferde legen die Ohren an und ziehen den Schweif ein. Ihnen scheint die Wetterlage genauso unangenehm zu sein wie uns. Doch sie wissen eine Lösung. Intuitiv drehen sie sich mit dem Hinterteil in die Richtung, aus der der Hagel kommt. Dort schmerzen die fiesen Körner nicht so sehr wie am Kopf. So bleiben wir stehen, bis das Unwetter vorbei ist.

Als wir das Camp auf fast 3.000 Metern erreichen, sind wir durchgefroren. Wir ziehen unsere Daunenjacken über und kuscheln uns im Gemeinschaftszelt aneinander. Bei manchen stellen sich schon erste Wehwehchen ein. Knieschmerzen hier, Magenverstimmung da, aber aus diesem Grund haben wir ja eine Reiseapotheke dabei. Nachts leisten unsere mollig warmen Expeditionsschlafsäcke gute Dienste, die Temperaturen fallen in den Minusbereich.

Morgen werden wir hier bleiben. Unsere Guides wollen, dass wir uns akklimatisieren, um der Höhenkrankheit vorzubeugen. Außerdem gibt es hier jede Menge zu entdecken. In der Nähe unseres Camps steht eine Jurte. Wir sind neugierig auf die Bewohner und nehmen uns fest vor, sie zu besuchen. Die erste Begegnung sollte allerdings ganz anders verlaufen als erwartet.

Tag 3: Auf der kirgisischen Alm

Der Tag beginnt gemütlich. Wir schlafen aus und genießen das Frühstück im Schoß der weißen Gipfel. Die Idylle wird jäh unterbrochen. Unten am Fluss knallen Schüsse. Wir springen auf, um nachzusehen. Von Weitem lässt sich kaum etwas erkennen. Eine Herde schwarzer Fellberge tummelt sich dort in größter Aufregung. Es sind Yaks, haarige Hochgebirgsrinder, wie es sie auch in Nepal oder Tibet gibt. Wie die Pferde am Vortag haben Hirten die zotteligen Rinder am Fluss in die Enge getrieben. Auf einem Felsen steht ein Mann mit Gewehr in der Hand. Da kamen also die Schüsse her. Als die Herde zurück in die Berge stürmt, bleiben zwei der Fellberge leblos am Boden liegen. „Yaks sind hier nicht an Menschen gewohnt. Man kommt nicht nahe genug heran, um sie auf herkömmliche Art zu schlachten“, erklärt Nurbek.

Wir sind schockiert, doch irgendwie neugierig. Als wir ein paar Minuten später am Schauplatz eintreffen, sind die Männer schon bei der Arbeit. Emsig wuseln sie um die Yaks, ziehen das Fell ab und zerlegen das Fleisch mit altertümlichen und dennoch scharfen Messern. Die Innereien werden nicht etwa an die Hunde verfüttert, sondern zur späteren Verwertung im Fluss ausgewaschen.  Wir fragen uns, woher plötzlich die vielen Leute kommen sind. Die Nachbarn haben weite Wege auf sich genommen, um mit anzupacken.

Unsere Guides sind ebenfalls in Hirtenfamilien aufgewachsen. Sie wissen, dass man hier auf gegenseitige Hilfe angewiesen ist. Sie packen ihre Taschenmesser aus und stürzen sich ins Gewimmel. Zum Dank bekommen sie Herz und Leber der Yaks geschenkt. Unsere Köchin Nargiza würde sie abends im Camp auf traditionelle Weise zubereiten in Form eines Fleischgerichts namens „Kurdak“.

Hier in den Bergen lassen die Tiere direkt vor der Jurte ihr Leben, ein recht ernüchterndes, blutiges Szenario. Gleichzeitig finden wir es schön, dass die Tiere ihr Leben frei in den Bergen verbringen.

Nach getaner Arbeit sitzen die Männer beisammen und unterhalten sich. Nur selten bekommen sie Gelegenheit für so regen Austausch. Ans Heimreiten denkt niemand. Die ganze Mannschaft kehrt in die Jurte des 17-jährigen Pferdehirten Tilegen ein. Dort dürfen wir das kirgisische Nationalgetränk probieren. Kumys heißt die vergorene Stutenmilch, die süßlich-bitter schmeckt, gewöhnungsbedürftig für westliche Gaumen. Die Herstellung von Kumys ist mit großem Aufwand verbunden. Jeden Morgen treibt Tilegen die Stuten zur Jurte. Dann macht er sich ans Melken, alles per Hand. Die Pferdemilch wird in einem Bottich gesammelt, wo sie über Nacht fermentiert.

Man spürt, wie sehr die Hirten die Gesellschaft genießen. Die Atmosphäre ist ausgelassen. A capella stimmen sie sogar ein kirgisisches Volkslied an. Die Worte verstehen wir zwar nicht, doch schwingt in der Melodie eine gewisse Lebensfreude mit. Trotz aller Entbehrungen, der harten Arbeit bei nur spärlicher Abwechslung sagt Tilegen mit Überzeugung: „Ich bin gerne Hirte.“

Tag 4: Durch das Heldentor in eine andere Welt

„Wasteland“ ist der erste Begriff, der mir in den Sinn kommt beim Anblick der staubigen Straße, die sich zwischen den Geröllfeldern nach oben windet. Die Pferde traben zielstrebig voran, sie scheinen nie müde zu werden. Über die Serpentinen schlängeln wir uns hinauf zum Tosor Pass. Das Wort „Tosor“ bedeutet „Stopp“ auf Kirgisisch. Seinen Namen hat der Pass von einer Legende. Es heißt, einst wollte ein kirgisischer Held mit seinem Heer an dieser Stelle die Berge überquerten. Doch feindliche Krieger waren ihnen auf den Fersen. Deshalb stoppten der Held und seine Männer auf dem Pass und lockten die Verfolger in einen Hinterhalt.

Oben angelangt erwartet uns eine spröde Gletscherlandschaft mit hellblauen Seen und kantigen Felsformationen. Dies ist der höchste Punkt unserer Reise, auf 3970 Metern über dem Meeresspiegel. Wir sammeln uns kurz, atmen tief durch und genießen die Höhenluft. Dann geht es weiter. An beiden Seiten des Passes ragen die Felsen wie Hauswände in die Höhe. Es ist, als ob wir ein großes Tor durchqueren, hinter dem sich eine vollkommen andere Welt verbirgt.

Im Kerege-Tash-Tal ist die Landschaft flach und weit. Auf der anderen Seite war das Gras noch grün und saftig, hier ist bereits trocken und gelb. Man könnte meinen, man sei in einer afrikanischen Steppe gelandet, wäre da nicht das allgegenwärtige Relief aus weißen Gipfeln, das sich entlang des Horizonts erhebt. Hier sieht es aus, als würde der Tian Shan in die Unendlichkeit reichen. Wer in diese Weite blickt, wird ein Teil von ihr, ein einzigartiges Gefühl.

Nach der anstrengenden Passüberquerung brauchen wir eine Pause. Wie üblich binden die Guides die Pferde paarweise jeweils Zügel an Sattel zusammen. Wie tierische Yin-Yangs sehen sie aus, als sie in der Sonne vor sich hindösen. Wir breiten die Picknickmatten aus und tragen den Proviant zusammen: Brot, Marmelade, Käse, Wurst und natürlich schwarzen Tee. Nach der ausgiebigen Brotzeit starten wir zur letzten Tagesetappe.

In der Nähe eines Flusses namens Uch-Emchek, knapp unter den hügeligen Ausläufern der Gebirgskette, schlagen wir das Lager auf. Sobald der Sattel ab ist, wälzen sich die Pferde ausgiebig. Wie jeden Tag bekommen sie einen Lederriemen um die Fessel geschnallt. Daran hängt ein Strick mit einem Eisenpfahl. Letzterer wird in den Boden geklopft und verhindert, dass sie sich zu weit vom Lager entfernen. Wir genießen die bedächtige Abendstimmung. Bisher war kein Tag wie der andere. Wir sind schon gespannt, was morgen passieren wird.

Tag 5. Yak-Cowboys

Unsere Sachen lassen wir im Camp zurück, nur das Nötigste nehmen wir mit. Ein kleiner Tagesausflug ins Nachbartal Sary-Tor steht heute auf dem Programm. Still und leer scheint auch dieser Ort zunächst. Wir machen wieder ein Picknick und tollen in einem Schmelzwasserfluss herum, als wir plötzlich Besuch bekommen. Vor uns taucht ein großer, schwarzer Fellberg auf, zwei lange Hörner ragen aus ihm hervor. Bewegungslos steht das Yak da. Als wir näherkommen, stößt es ein seltsames Geräusch aus, das sich anhört wie ein Schweinegrunzen. Das macht es zwei-, dreimal, dann hebt es den Schwanz in die Höhe und galoppiert davon. Zum ersten Mal sehen wir ein lebendiges Yak aus nächster Nähe. Das Erlebnis ist genauso amüsant wie Furcht einflößend. Und genau deshalb birgt unser nächstes Abenteuer so viel Nervenkitzel.

 

Tag 6. Die gestohlene Braut

„Eine gute Ehe beginnt mit Tränen“ lautet ein kirgisisches Sprichwort. Was sich dahinter verbirgt, sollen wir heute erfahren. Eine Hirtenfamilie hat uns in ihre bescheidene Hütte eingeladen. Mit getrocknetem Schafdung wird der kleine Ofen befeuert, auf dem die unsere Gastgeberin das Essen zubereitet. Die 18-jährige Ajsalkin ist nicht immer Hirtin gewesen. Vor zehn Monaten noch lebte sie in der Hauptstadt Bischkek und arbeitete als Kellnerin in einem Restaurant. Dort hat sie ihr Ehemann zum ersten Mal gesehen. Am nächsten Tag hat er sie entführt, einen Tag später haben sie geheiratet. „Für meinen Mann war es einfach, für mich nicht“, sagt Ajsalkin.

Ala Katschu, der Brautraub, ist ein kirgisischer Brauch, der nach dem Fall der Sowjetunion wieder auflebte. Zwar stellt die Entführung mittlerweile eine Straftat dar, wird aber gesellschaftlich weitgehend akzeptiert. Die Frauen werden von der Familie des Mannes festgehalten und unter Druck gesetzt. Haben sie eine Nacht in einem fremden Haus verbracht, ist ihr Ruf ruiniert, kein anderer würde sie heiraten. Wir sind bewegt vom Schicksal unserer Gastgeberin. Für uns wäre eine solche Art der Eheschließung undenkbar. Doch Ajsalkin scheint ihren Entführer ins Herz geschlossen zu haben. Mit einem strahlenden Lächeln sagt das Mädchen: „Ich bin glücklich. Das ist meine neue Familie.“

Unter den Kirgisen gehen die Ansichten auseinander. Vor allem unser 27-jähriger Guide  Maksat schüttelt den Kopf, als wir ihn nach Ala Katschu fragen. Er selbst habe ein ganzes Jahr lang seiner Freundin den Hof gemacht. Vor ein paar Wochen hat er ihr Ohrringe geschenkt, in Kirgisistan ein Symbol für die Verlobung.

Tag 7: Ein Wintermärchen

Als wir am nächsten Morgen aus den Zelten klettern, trauen wir unseren Augen nicht. Die Landschaft sieht aus, als hätte sie jemand über Nacht mit Puderzucker bestreut. Die Pferde schnauben entspannt und scharren mit den Hufen nach Grasbüscheln. Die weiße Ebene streckt sich dem gleißenden Licht der aufgehenden Sonne entgegen. Von der Szenerie geht eine ungewöhnliche Ruhe aus. Wir zittern vor Kälte, nicht einmal die Daunenjacken können daran etwas ändern. Trotzdem können wir uns nicht sattsehen an der winterlichen Landschaft, die aussieht wie ein Bild aus einem Märchen. Wie gemalt scheinen die freien Pferde, die an jenem Morgen zum Camp kommen, um uns und unsere Reitpferde neugierig zu begutachten.

 

„Nicht trödeln!“ Mit einem freundlichen Lächeln und dennoch entschlossen treiben die  Guides uns an. Heute haben wir die längste und schwierigste Etappe vor uns. Zügig brechen wir das Lager ab und satteln die Pferde. Kurze Zeit später zieht unsere Karawane gen Osten entlang des Kerege-Tash-Tals.

Wir erreichen ein kleines Plateau. Dort steht ein einfaches Zelt, aus dessen Dach ein Ofenrohr ragt. Der Rauch, der daraus aufsteigt sagt uns, dass jemand zu Hause ist. Zu unserer Überraschung sind es drei Jungen zwischen zehn und 15 Jahren, wahrscheinlich sind die Eltern unterwegs. Sie freuen über unseren Besuch und laden uns alle in das Zelt ein. Wie die Sardinen in der Dose fühlen wir uns, als der übliche Chai serviert wird. Kaum zu glauben, dass die Hirtenfamilie den ganzen Sommer in diesem kleinen Zelt verbringt.

Mit unseren Guides tauschen sich die Jungs aus, woher wir kommen, wohin wir gehen und was es Neues gibt von den Nachbarn. Warm und gemütlich ist es in dem kleinen Zelt, aber zu lange dürfen wir nicht rasten. Die anstrengendste Etappe liegt noch vor uns. Von dem Plateau aus sieht man, wie das Tal immer enger wird. Die Felswände rücken so weit zusammen, sodass an ihrem Grund lediglich genug Platz bleibt für den Fluss, der Pfad führt an den Hängen entlang. Diese Schlucht ist letzte verbleibende Hürde zwischen uns und der Rückkehr in die Zivilisation.

Wieder hat das Tian Shan seine Kulisse komplett gewechselt. Mineralien im Gestein färben die Felsen hier dunkel, beinahe schwarz, sodass man glauben könnte, man reite durch das Vulkangestein Islands. Hoch oben in der Talrinne hängen sanfte Nebelschwaden. Sie geben der Szenerie ein abenteuerliches Flair.

Unsere Pferde balancieren auf dem steinigen und teilweise sandigen Pfad an den Felsen entlang. Wir fragen uns, ob die Hirten tatsächlich ihr Vieh auf diese gefährlichen Wege treiben. Lehnt man sich zur Seite, blickt man in einen Abgrund. Ein Sturz wäre fatal. Besser nicht hinsehen. Mittlerweile können wir unseren Pferden blind vertrauen. Sie wissen, wie sie ihre Hufe setzen müssen. Wären wir zu Fuß unterwegs, wären wir sicher schon längst abgerutscht. Die Pferde machen ihr Ding und wir kommen unbeschadet in sicheres Gelände.

Mit geteilten Gefühlen kommen wir am Treffpunkt in Sary-Moinok an. Der sechsstündige Ritt war anstrengend. Wir freuen uns auf das heiße Dampfbad im Gästehaus, auf Heizung, warmes Wasser und Internet. Andererseits ist es schade, dass der Treck zu Ende geht. Schweren Herzens trennen wir uns von unseren treuen Reitpferden. Sie werden auf Lastwagen geladen und zurück ins Tal gefahren, wo sie sich auf den saftigen Wiesen ausruhen dürfen.

Nun können wir uns ein Bild machen, vom kirgisischen Hirten. Es ist das eines einsamen Reiters, der Tag für Tag durch eine raue, gefährliche und doch wunderschöne Gebirgslandschaft zieht. Er nimmt weite Distanzen in Kauf, um seine Nachbarn zu treffen, ist mit wenig Komfort zufrieden, ein Allrounder, der viel improvisieren muss. Er kann Schlachten, Melken und Pferde einfangen, kennt sich aus mit sämtlichen Wetterlagen und kann alpine Gefahren einschätzen. Sein Bild ist ein sehr männliches. Wenn er eine Frau haben will, entführt er sie einfach. Die raue Welt des Tian Shan scheint abzufärben auf die Menschen, die dort oben leben. Trotz der widrigen Umstände scheinen sie glücklich und bewirten ihre Besucher mit herzlicher Gastfreundschaft, egal ob Nachbarn oder Fremde.

Kirgisistan ist ein Land voller Kontraste. Die Lebensweise der Einheimischen wandelt sich zum westlichen Vorbild hin. Wer sind wir zu urteilen, ob dies gut ist oder schlecht. Auch wenn viele Kirgisen das Bergleben hinter sich gelassen haben, so scheinen sie im Herzen noch immer so frei zu sein, wie die Nomaden, die sie einst waren. Der Tian Shan ist ein Teil von ihnen geworden und nun vielleicht auch ein bisschen von uns. Der Pfad des Hirten wird uns noch lange in Erinnerung bleiben.