Der Aufstieg ist zäh und die Männer atmen schwer. In ihren Rucksäcken transportieren sie nicht nur Proviant, sondern auch schwere Dieselkanister und Gasflaschen. Der Weg führt über Geröllfelder, vereiste Passagen und steile Schneehänge. Mehr als sechs Stunden dauert es, bis die vierköpfige Mannschaft bei der „Stanzia“ angelangt. Die Wetterstation am Adyginegletscher liegt auf 3600 Metern über dem Meeresspiegel, 1500 Höhenmeter entfernt vom Ausgangspunkt der Wanderung. Obwohl die kirgisischen Forscher diese Tour mehrmals im Jahr machen, kämpfen sie jedes Mal mit dem anspruchsvollen Gelände und der extremen Witterung.

Das Team aus Wissenschaftlern und Ingenieuren arbeitet für das Institut für Wasserprobleme und Wasserkraft in der kirgisischen Hauptstadt Bischkek. Sie kommen regelmäßig zur Wetterstation am Adygine und bleiben oft wochenlang dort. Die „Stanzia“ hat mehrere Bettenlager, einen Dieselgenerator für Strom und sogar eine Küche mit Gasherd.

Einer der Wissenschaftler, der am Abend am Küchentisch sitzt ist der Geröllexperte Vitaly Zaginaev. Bei heißem Tee und rohem Knoblauch (gegen Höhenkrankheit) erklärt er: „Es gibt 18 Schmelzwasserseen am Adygine. Der Größte davon ist gefährlich. Das Wasser wird durch einen Eispfropfen in einem unterirdischen Kanal aufgestaut. Wenn die Temperatur im Sommer zu schnell steigt, wird es schlagartig frei.“

Im Sommer enthält der See dreieinhalb Millionen Kubikmeter Wasser, so viel wie 14 olympische Schwimmbecken. Unterhalb liegen große Mengen an losem Gesteinsmaterial, das bei einem Ausbruch von der Flutwelle mitgerissen würde. „Die Schlammlawine könnte nicht nur im Ala Archa Tal, sondern auch im 40 Kilometer entfernten Bischkek katastrophale Schäden anrichten“, sagt Vitaly. Deshalb seien er und seine Kollegen hier, um Parameter wie Temperatur, Niederschlag und Wasserpegel zu überwachen. Nur so könne man einen Ausbruch vorhersagen. In den kritischen Monaten, Juni bis August,  wechseln sich die Wissenschaftler in Schichten ab und die Station ist permanent besetzt.

Fluten, die durch Gletscherseeausbrüche entstehen, sogenannte Glacial Lake Outburst Floods (GLOFs) sind weltweit zu einem großen Problem geworden. Bereits 2007 bezeichnet das United Nations Environmental Program GLOFs als schwerwiegendste Gefahr, die von der Gletscherschmelze ausgeht, mit enormem Schadenspotenzial. Zum Beispiel forderte im Juli 1998, ein Gletscherseeausbruch im Shahimardan Tal zwischen Kirgisistan und Usbekistan, mehr als 100 Menschenleben. 1994 zerstörte eine Flut in Bhutan die gesamte regionale Ernte und 24 Menschen kamen ums Leben. In Peru stürzte im April 2010 eine Eislawine in den See 513 am Hualcangletscher und löste einen 25 Meter hohen „Tsunami“ aus. Die Flutwelle verursachte bedeutende Sachschäden in der Stadt Charuaz und versetzte die Einwohner in Panik. Auch in den Alpen, in Nordamerika und in Skandinavien kennt man die Schmelzwasser-Fluten. In Island werden sie Jökulhlaup genannt und entstehen meist durch geothermische Hitze oder vulkanische Aktivität.

Im Mai 2008 brach der See am unteren Grindelwaldgletscher im Schweizer Kanton Bern aus und die Schlammflut überschwemmte den Talboden. Auch hier wurde niemand verletzt, jedoch entstand ein Schaden von einer halben Million Schweizer Franken. Emanuel Schläppi, der Bürgermeister von Grindelwald sagt: „Die Ortschaft selbst war nie gefährdet. Aber wir haben uns große Sorgen um den Tourismus gemacht – eine wichtige Einnahmequelle in der Region.“

Grindelwald Gletschersee, 2009, Bild: Oberingenieurkreis I (Tiefbauamt des Kantons Bern)

Seit der Katastrophe hat man Maßnahmen ergriffen: Für 15 Millionen Schweizer Franken wurde ein Stollen gegraben, um überschüssiges Wasser aus dem Gletschersee abzuleiten. Zudem wurden mehrere automatische Messstellen eingerichtet für zusätzliche 50.000 Schweizer Franken. Über diese Sonden wird im Sommer der Wasserpegel im See und im Abflussbereich ständig überwacht. Werden die Messwerte überschritten, lösen die Sonden im Tal Alarm aus. Der Fachausschuss für Naturgefahren, der aus Bergführern und Katastrophenexperten besteht, informiert daraufhin die Feuerwehr. Die übt wöchentlich das Vorgehen im Ernstfall. Straßensperren und Evakuierungsmaßnahmen stehen auf dem Notfallplan.

Stollenbau, 2009, Bild: Oberingenieurkreis I (Tiefbauamt des Kantons Bern)

Über eine eigens eingerichtete Homepage informiert die Gemeinde Bevölkerung und Medien regelmäßig über alle Vorgänge am Grindelwaldgletscher. „Während der kritischen Phasen haben wir drei Mal im Jahr Helikopter-Rundflüge organisiert“, sagt Schläppi. Er fügt hinzu: „Derzeit geht keine besondere Gefahr vom See aus. Der Gletscher hat sich so weit zurückgezogen, dass die Geländeneigung das Überlaufen des Sees verhindert.“

Gletscherschlucht, 2009, Bild: Bruno Petroni

Am Grindelwald scheint die Gefahr vorüber, jedoch stellt man sich in der gesamten Schweiz auf die Prävention und Früherkennung von Gletschersee-Ausbrüchen ein. „Praktisch jedes Jahr bildet sich ein neuer See“, sagt Glaziologe Wilfried Haeberli von der Universität Zürich (siehe Interview unten). Jüngste Beispiele sind der See am Triftgletscher, der rasch wachsende See an der Zunge des Rhonegletschers oder die Seen, die sich derzeit am Aletschgletscher bilden. Haeberli und sein Team haben Modellrechnungen durchgeführt, wonach im 21. Jahrhundert in der Schweiz bis zu 600 neue Gletscherseen entstehen – am Konkordiaplatz des Aletschgletschers sogar mit bis zu 300 Metern Tiefe. Solche Modellrechnungen werden derzeit für die Gebirge in Zentralasien durchgeführt und die Wissenschaftler an der Züricher Uni erwarten ähnliche Resultate.

In Kirgistan, das eine ähnliche Topografie besitzt wie die Schweiz, gibt es mehr als 300 Seen, die dieses Jahr ausbrechen könnten. Im Gegensatz zur Schweiz fehlen allerdings die Mittel, um sich angemessen vorzubereiten. Nur sechs Spezialisten stehen zur Verfügung, um die Seen im ganzen Land zu überwachen. Sie können jedes Jahr nur eine Handvoll Seen auswählen, zu Fuß dorthin wandern und ihre Messungen durchführen.

„Zumindest einige automatische Messstationen würde unsere Arbeit sehr erleichtern“, sagt Vitaly während er mit einem seiner Kollegen über den zugefrorenen See geht. An diesem Novembermorgen besteht keine GLOF-Gefahr, aber die Klimastudien müssen trotzdem durchgeführt werden. Mit einer Brechstange schlagen die beiden abwechselnd ein Loch ins Eis, dann hält Vitaly ein Maßband hinein. 15 Zentimeter ist das Eis dick. Am gleichen Tag im letzten Jahr war es doppelt so viel.

Dass ihre Arbeit wichtig ist, konnten die Forscher im Juli 2012 beweisen, als der Teztorsee im Nachbartal ausbrach. „Die Wassertemperatur stieg innerhalb von zwei Tagen um zwei Grad. Durch das zusätzliche Schmelzwasser aus dem unterirdischen Eiskanal stieg der Wasserpegel schlagartig um ganze 16 Zentimeter. Dadurch wussten wir, dass der See bald ausbricht“, erzählt Vitaly und fügt hinzu: „Wir haben die Information sofort an das Ministerium für Notfallsituationen weitergeleitet.“ Das Notfall-Einsatzkommando konnte das Gebiet noch rechtzeitig evakuieren und niemand wurde verletzt.

 

„Jedes Jahr entsteht ein neuer See“
Interview mit dem Glaziologen Wilfried Haeberli

Warum hat man von den GLOFs bisher so wenig gehört?

Die Medien interessieren sich vor allem für grosse Naturkatastrophen, die durch Wirbelstürme oder Erdbeben verursacht werden. Seeausbrüche hatten bisher selten große Ausmaße und passieren oft in nur dünn besiedelten Gebieten.

Wird sich das in Zukunft ändern?

Die Wahrscheinlichkeit katastrophaler Seeausbrüche ist heute noch klein, aber sie steigt mit jedem neuen See. Wenn ein Gletscher einmal zu schmelzen beginnt, dann geht es schnell. In den nächsten Jahrzehnten werden weltweit viele neue Seen entstehen, die zur Bedrohung werden können. Das betrifft vor allem Hochgebirgsregionen wie Zentralasien, die Himalayas, die Anden und auch die europäischen Alpen.

Warum nimmt die Gletscherschmelze zu?

Zum einen liegt es am Klima: In den Alpen beispielsweise hat man seit den 1980-er Jahren einen atmosphärischen Temperaturanstieg von rund einem Grad Celsius gemessen. Dazu kommt die zunehmende Verschmutzung der Gletscheroberflächen durch Staub und Ruß aus der Luft. Eine dunkle Oberfläche absorbiert die Sonnenstrahlung besser als eine helle und das verstärkt die Schmelze. Vor allem der Ruß aus schlecht verbranntem organischem Material ist ein zunehmendes Problem, etwa in asiatischen Ländern.

Stellen nur große Seen eine Bedrohung dar?

Wie viel Zerstörungskraft ein See hat, hängt nicht nur von seinem Volumen ab sondern in erster Linie davon, wie der Ausbruch abläuft und wie das Gelände unterhalb des Sees beschaffen ist. Auch ein kleiner See mit 10’000 Kubikmetern Wasser kann in steilem Gelände viel Schutt mitreißen und große Murgänge auslösen.

Kann man den Ausbruch immer vorhersagen?

Es gibt ganz unterschiedliche Situationen. Beim bekannten Merzenbacher See in Kirgistan beispielsweise ist die Vorhersage relativ einfach. Dieser See bricht jedes Jahr um eine ähnliche Zeit aus. Sein Wasser hebt den natürlichen Eisdamm an und weitet unter dem Eis die Abflusskanäle aus. Anhand des ansteigenden Seespiegels kann man deshalb realistische Vorhersagen machen. Besonders gefährlich sind die Seen , die sich unter steilen Felsflanken bilden. Grosse Fels- und Eislawinen, die von oben in den See stürzen, können plötzliche und weitreichende Flutwellen auslösen. Das war zum Beispiel 2010 in Carhuaz der Fall.

Wie häufig kommt es zu Felsstürzen?

Seit den 1980er Jahren nahm die Frequenz von grossen Felsstürzen im Hochgebirge deutlich zu. Die Ursache ist ebenfalls die globale Erwärmung. Grundsätzlich stabilisiert Eis das Gebirge, das weiß jeder Bergführer. Unter der Oberfläche reicht der Permafrost mancherorts Hunderte von Metern in den Berg hinein. Zum Beispiel ist das Matterhorn durch und durch gefroren. Das Eis verschließt die Felsklüfte und genau das ist der entscheidende Punkt. Wenn es schmilzt, kann sich ein hoher Wasserdruck im Fels aufbauen und Stürze auslösen.

Wie kann man sich vor GLOFs schützen?

Im Prinzip sollte man die gefährlichen Bereiche meiden. Aber es ist verständlich, dass die Anwohner einer Umsiedlung oft nicht zustimmen. Am See selber kann man den Wasserspiegel künstlich absenken oder, falls vorhanden, einen talwärts gelegener Stausee so gestalten, dass er notfalls die gefährliche Flutwelle auffängt. Die Installation von Frühwarnsystemen ist wichtig, damit man die Menschen rechtzeitig evakuieren kann. Sachschäden werden trotzdem entstehen. Entscheidend ist auch, dass die betroffene Bevölkerung weiss, was im Alarmfall zu tun ist. In der Schweiz ist es kein Problem solche Maßnahmen zu ergreifen, jedoch fehlt es in ärmeren Ländern oft an den Mitteln.

Wie ist der aktuelle Stand in der Schweiz?

Wir haben realistische Modellrechnungen und können relativ präzise vorhersagen, wo und wann neue Seen entstehen werden. Daher ist es möglich, rechtzeitig sinnvolle Maßnahmen zu planen. Man kann auch überlegen, wie man sich die neuen Seen zunutze macht, entweder als Touristenattraktion oder für die Wasserkraft. Ein Beispiel dafür ist der Berner Triftsee, den es erst seit rund 10 Jahren gibt. Der hätte großes Potential für die Erzeugung von Wasserkraft. Talwärts des Aletschgletschers gibt es bereits einen Stausee, den man zur Kombination von Wasserkraft und Hochwasserschutz benützen könnte.

Sie haben das erste digitale Geländemodell der Schweiz ohne Gletscher erstellt. Wie sieht es denn aus?

In den jetzigen Gletscherbetten gibt es 500–600 durch Gletschererosion verursachte Vertiefungen mit einer Gesamtfläche von 50–60 Quadratkilometern. Dort können sich überall neue Schmelzwasserseen bilden. Die Gletscher der Alpen verlieren im Durchschnitt jährlich etwa 2-3 Prozent ihrer Fläche. Man könnte sagen, jedes Jahr entsteht ein neuer See. Die noch bestehenden Gletscherlandschaften der Alpen werden sich in den kommenden Jahrzehnten in Landschaften von Fels, Schutt und Seen verwandeln.

Welche Folgen wird das Verschwinden der Gletscher haben?

Das hat natürlich emotionale Folgen, denn wir verlieren schöne Hochgebirgslandschaften. Außerdem wird sich der Wasserhaushalt verändern. Das Schmelzwasser von Gletschern in grossen Flüssen und Strömen wie Rhein und Rhone spielt vor allem in trocken-warmen Jahreszeiten für die Trinkwasserversorgung und die Landwirtschaft eine wichtige Rolle. Es dürfte deshalb auch im weiteren Umland kalter Gebirge öfters zu kritischen Dürreperioden kommen. Und das trifft die Nahrungsmittelproduktion.