Auto

 

Hier in Tariat, einem kleinen Städtchen im Zentrum der Mongolei fühlt man sich wie im wilden Westen. Hier gibt es keine geteerten Straßen, aber immerhin eine Bar, ein Hotel, eine Bank und einen Polizisten. Die Bauern aus der Steppe kommen nach Tariat, um Lebensmittel einzukaufen oder Ersatzteile für ihre chinesischen Motorräder. Ich habe mir extra ein Pferd gemietet, um von meinem Camp am Weißen See herzureiten.

Schon am Stadteingang fängt der Ärger an. Mein Pferd will nicht über die löchrige Holzbrücke laufen. Stur stemmt es die Beine in den Boden und macht den Hals lang „Keinen Schritt weiter!“ Kann ich verstehen, denn auch mir sind die morschen Holzbretter nicht ganz geheuer. Die chinesischen Bauarbeiter, die an der neuen Stahlbrücke arbeiten, sehen erst eine Weile zu und amüsieren sich. Dann kommt einer rüber und wedelt hinter dem Pferd ein wenig mit den Händen. Es funktioniert und das Pferdchen geht anstandslos zum anderen Ufer.

Als ich durch die Stadt reite, schauen mir die Einheimischen nur stumm nach. Wieder fühle ich mich, wie in einem Spaghetti-Western und halte nach Clint Eastwood Ausschau. Vor der Bank halte ich an und binde das Pferd an einen Pfosten. Den richtigen Knoten dafür haben mir die „Horsemen“ im Camp gezeigt. Ich gehe zum Bankschalter und zeige meine Mastercard. Stummes Kopfschütteln. Die Maestro-Karte nimmt die Frau an und schüttelt erst dann den Kopf, nachdem sie sie durch den Kartenleser gezogen hat. Kaputt. Also begebe ich mich auf die Suche nach einem Bankautomaten. Im Laden wieder nur stummes Kopfschütteln.

Ich setze mich auf die Stufen vor der Ladentür und vergrabe den Kopf in den Händen. Ich bin mit meinem Latein am Ende. Als ich so dasitze und über mein weiteres Vorgehen nachdenke, hält ein Jeep vor mir an, ein junger Mann steigt aus und hält mir ein Handy vor die Nase. „Meine Schwester will mit dir reden“, sagt er auf Englisch.

Reisetipp: Vor allem während meiner Zeit in Nepal habe ich gelernt, dass es meistens nichts Gutes bedeutet, wenn fremde Leute auf einen zukommen. Egal welches Anliegen sie haben und egal wie unschuldig es sich anhört, meistens ist es der Anfang einer Trickbetrügerei. Am sichersten ist es, wenn man dankend ablehnt und schleunigst das Weite sucht.

Ich nehme also das Telefon: „Hallo, wer ist da?“ – „Mein Name ist Tunga, brauchst du Hilfe?“ anntwortet eine Frauenstimme auf Englisch. „Das hört sich einfach zu gut an, um wahr zu sein“, denke ich sofort, aber gegen meine Neugierde habe ich keine Chance. Wir verabreden uns also für den nächsten Tag. Ihr Bruder würde mich noch heute Abend im Camp am See abholen und zu ihrem Guesthouse in Tariat bringen.

Am nächsten Tag lerne ich Tunga kennen. Sie ist die Englischlehrerin im Ort. Der Ladenbesitzer hat sie angerufen und von meinen unglücklichen Kommunikationsversuchen erzählt. Sie sagt, sie und ihr Mann Amra könnten mir helfen, Pferde oder ein Motorrad zu kaufen. Ihr Bruder Basa könne mich in die Provinzhauptstadt zum nächsten Bankautomaten bringen (siehe Motorradfahren im Eisregen). Solange bis ich alles erledigt habe, darf ich in ihrem Guesthouse wohnen. Über Geld spricht sie nicht.

Als Tunga mir ihre vielen Gästebücher zeigt,  erfahre ich, dass ich kein Einzelfall bin. Tunga und ihre Familie lesen verzeifelte Backpacker auf, wie streunende Hunde. Grund zur Verzweiflung gibt es in Tariat anscheinend viel: misslungene Versuche per Anhalter zu fahren oder einen Bus ausfindig zu machen, Auto- und Motorradpannen, Reitunfälle, verlorene Reisepässe… Tunga und Amra haben ihnen allen geholfen. Die Gastebücher quellen über vor Dankesbezeugungen in Englisch, Deutsch, Französisch, Spanisch und Hebräisch. Es besteht kein Zweifel: Tunga ist ein guter Mensch.

An dem Tag erfahre ich von einem anderen von Tunga’s Hilfsprojekten. Im Guesthouse treffe ich ein verzweifeltes Schweizer Ehepaar. Ihr Allrad-Fahrzeug ist im Sumpf stecken geblieben und in der ganzen Mongolei gibt es keine Seilwinde, um es herauszuziehen. Zufällig haben sie auf der Straße Tunga’s Bruder getroffen. Nun kümmert sich die ganze Familie um die Angelegenheit. Amra baut eine Umlenkrolle. Wenn sie fertig ist, wollen sie alle zusammen wieder in den Sumpf fahren und das Auto bergen. Das Ehepaar ist dankbar, wollten sie doch damit wieder zurück in die Schweiz fahren.

Der Mann hat jahrelang an dem Toyota gebastelt und viele Extras eingebaut, zum Beispiel eine Schlafkabine auf dem Dach. Ich finde die Geschichte interessant und frage, ob ich zuschauen könne, wenn sie das Auto bergen. Vielleicht kann ich eine kleine Reportage schreiben. Sie sind einverstanden, Tunga ist es nicht. „Vergiss es, der Sumpf ist kalt und nass. Du wirst krank”, argumentiert sie. Alternativ schlägt sie vor, über die Näharbeiten ihrer Freundin zu schreiben. Als Gegenvorschlag frage ich, ob ich über sie und ihre Arbeit mit den Touristen schreiben könne.

Sie ist einverstanden und ich erfahre von ihrem Auslandssemester in den USA, ihren ersten Jahren als Englischlehrerin, wie sie ihren Mann kennengelernt hat und höre viele, viele Geschichten von Backpackern in Not. Alles fing vor mehr als 15 Jahren an, als einem französischen Touristen der Rucksack in den Fluss gefallen ist. Die Polizei hat Tunga zum Übersetzen geholt und nachdem alles geregelt war, hat sie den Mann zu sich nach hause eingeladen, ihm Essen gekocht und ihn bei ihrer Familie übernachten lassen. Das hat sich herum gesprochen und nach und nach sind Touristen zu ihr in die Schule gekommen, um sie um Hilfe zu bitten. Am Anfang hat sie nie Geld dafür verlangt. Erst später haben die Leute vorgeschlagen, dass sie ein Guesthouse aufmachen solle. Ihr macht es Spaß mit den Touristen zu arbeiten. „Die Probleme sind so vielfältig. Es ist immer wieder eine Herausforderung“, sagt sie strahlend. Wahrlich, ein guter Mensch.

Der Herausforderung „Schweizer Auto im Sumpf“ sind Tunga und Amra allerdings nicht gewachsen. Als sie hin fahren, um es zu bergen, hat ein Unbekannter über Nacht die Motorhaube aufgebrochen und Fahrzeugteile gestohlen. Es scheint unmöglich, den Toyota frei zu bekommen. Die Schweizer geben auf. Sie werden das Auto hier lassen und heim fliegen. Offiziell schenken sie das Auto Tunga’s Familie, damit sie die Zollbestimmungen umgehen können. Amra wird im Winter versuchen zu bergen, was vom Fahrzeug noch übrig ist.

Alle sind traurig. Tunga und Amra kümmern sich herzzerreißend, um das Schweizer Ehepaar. „Papa und Mama“, sagen sie zu ihnen, obwohl die beiden nur etwa zehn Jahre älter sind. Wenn die Schweizer nach dem Preis für die Hilfe fragen, heißt es immer: „Das ist für uns, als ob wir unseren Eltern helfen. Es ist eine Ehre.“ Dass sie ein wenig zu dick auftragen, denken wir uns an dem Punkt wohl alle. Aber man zuckt nur mit den Schultern und sagt sich: „Das ist eben die mongolische Gastfreundlichkeit.“

So, und jetzt passiert’s. Eine beeindruckende Verkettung von Ereignissen mit unglaublicher Wirkung:  Es ist der Abend vor unserer Abreise. Ich habe beschlossen mit Tunga, Amra und den Schweizern nach Ulan Bator zu fahren, weil aus meinen Plänen nichts geworden ist. Wir sitzen zu dritt im Guesthouse und vernichten das Käsefondue und den Weißwein, den die beiden aus der Schweiz mitgebracht haben. Die Tür geht auf und Tunga kommt mit fünf Leuten herein. Ein französisches Filmteam. Sie machen eine Dokumentation über drei Geschwister, die mit dem Fahrrad durch die Mongolei fahren. Wir laden sie ein und plötzlich sind wir eine große Runde.

Die Schweizer erzählen die Geschichte von ihrem Auto und zeigen Fotos am Laptop. Es ist ein lustiger Abend. Die Filmemacherin, Frederique, kurz Fred, ist mir sofort sympathisch. Sie hat Jura studiert und ist dann quer in’s Filmgeschäft eingestiegen. Fred ist Freiberuflerin und arbeitet an Projekten, wie sie ihr über den Weg laufen. Kommt mir bekannt vor.

Ich erzähle ihr von meinen Berufsplänen und sie möchte mir helfen. Sie gibt mir einen Kontakt in Tsetserleg für eine Geschichte über die örtliche Forschungsstelle: Den Australier Murry, Besitzer des Fairfield Guesthouse. Am nächsten Morgen rufe ich dort an, erreiche aber niemanden. Die Zeit ist knapp und ich entscheide, die Geschichte sein zu lassen und wie geplant mit nach Ulan Bator zu fahren. Fred und ihr Filmteam wollen den Tag in Tunga’s Jurtencamp am Weißen See verbringen. Wir verabschieden uns und tauschen Email-Adressen aus.

Etwa sechs Stunden später, ich sitze neben den Schweizern hinten in Tunga’s Jeep, klingelt mein Telefon. Es ist Fred. “Sind die Schweitzer noch bei dir?” –“Ja, haben sie etwas vergessen?“ –„Kann man wohl sagen, ihr Auto fährt gerade vor unserer Nase herum.“

Scheiße, da ändert sich plötzlich die Perspektive. Aus weiß wird schwarz und auf einmal sind Tunga und Amra keine guten Menschen mehr. Anscheinend hat Basa, den Toyota repariert und aus dem Sumpf gezogen, sobald wir weg waren. Sein Fehler war es, zum Camp zu fahren. Er ahnte nicht, dass die Franzosen Bescheid wussten und sogar Bilder gesehen haben. Zwar hatte Fred meine Telefonnummer nicht, aber Murry, weil ich ihn am Morgen angerufen hatte. Wäre ich nicht mit nach UB gefahren, hätte es keine Möglichkeit gegeben, den Schweizern noch rechtzeitig Bescheid zu sagen. Am nächsten Tag wollten sie nach hause fliegen.

Als wir an einer Raststation anhalten, steige ich aus und gehe um das Auto herum. Plötzlich fällt mir der Südtirol-Aufkleber am Kofferraum auf. Ich erinnere mich an etwas, dass mir der Schweizer vor einigen Tagen erzählt hat: „Tunga hat gesagt, die Autos gehen hier schnell kaputt, wegen den schlechten Straßen. Alle fünf bis sechs Jahre müssten sie sich ein Neues anschaffen. Ich frage mich, woher sie das Geld nehmen.“ Ich habe die Vermutung, dass das Schweizer Auto nicht das erste ist, das sich die beiden so unter den Nagel reißen.

Auf Deutsch erzähle ich den Schweizern was passiert ist. Sie können es nicht glauben. Fred würde morgen via Email ein Foto schicken. Solange wollen sie noch abwarten und nichts sagen. Am nächsten Tag konfrontieren sie Tunga mit dem Bild. Sie ist entsetzt und sagt, sie hätte nichts davon gewusst. Sofort sind alle wieder zurück nach Tariat gefahren.

Den Rest kenne ich nur aus Emails: Als sie ankamen, war das Auto plötzlich fahruntüchtig. Das sei es schon immer gewesen. Basa habe es mit dem Ochsenkarren aus dem Sumpf gezogen. Man hat überlegt, es nach UB zu transportieren, aber zum Glück konnte Amra es in letzter Minute reparieren (sic!).

Letztenendes kann niemand Tunga’s Schuld beweisen. Die Geschichte wurde nie zur Anzeige gebracht. „Man muss ihnen doch einen Ausweg lassen“, hat der Schweizer zu mir gesagt. Naja, immerhin sind die beiden jetzt wie geplant unterwegs in die Schweiz – auf den eigenen vier Rädern. Und meine Theorie hat sich bestätigt: Wenn ein Fremder auf dich zukommt, heißt es meistens nichts Gutes.