Ausgerechnet afrikanische Buschmänner stehen in der Messehalle der Münchner Medientage. Ich weiß nicht, warum man gerade dieses Projekt ausgewählt hat, neben all den Social Media- und TV-Themen. Vielleicht sollen die Szenen aus der Kalahari noch einmal an die alte Realität erinnern, denn bald wird es eine Erweiterte geben.

Isaak und Stanley heißen die Buschmänner, so steht es in der Bildbeschreibung.  Sie tragen nichts weiter als einen Lendenschurz und machen mit Pfeil und Bogen Jagd auf Antilopen. Die Gesichter sind gegerbt von der Sonne, die Augen zusammengekniffen. Ein ursprüngliches, ein hartes Leben, das dem Betrachter gleichzeitig so romantisch-idyllisch vorkommt. Die Fotos sind im Großformat in der Messehalle angebracht. Es ist die Art von satten, gestochen scharfen Bildern, die sogar ihre Motive an Ästhtik weit übertrifft. Zwischen den Leinwänden steht ein dunkelgrüner, blitzblanker Jeep – spätestens jetzt stellt sich beim Messebesucher das Safarifeeling ein, oder besser die romantische Idee vom Safarifeeling.

„First Man“

Die Installation ist eine grüne Insel inmitten der digitalen Flatscreenwelt. Viele Besucher zieht es in die kleine Oase zu Felix Meinhardt. Das ist der junge, bärtige Kameramann, der hier enthusiastisch in blauem Hemd und Jeans herumspringt, sein Hals schon ganz heiser vom vielen erklären und erzählen. Zusammen mit ein paar Kollegen hat er den preisgekrönten Film über die Buschmänner in der Kalahari gedreht. „First Man“ ist der Titel der modernen Dokumentation über die „Wiege des Lebens“:

 

Gleichzeitig finden im Nebenraum Bühnengespräche statt: Experten mit wahlweise Schal oder Krawatte sitzen in ihren Stühlen und sagen kluge Sachen in ein Mikrofon. Es geht um hippe Themen wie multimediales Storytelling, Crowdradio und Sharing Economy („Teilen ist das neue Haben“). Ich muss dabei an den Kurs denken, den ich in der letzten Woche mitgemacht habe: „Der Social Media Manager“, gehalten von einem Social Media Experten mit Männer-Dutt. Bisher bin ich davon ausgegangen, dass der Erfolg von Facebook, Twitter, Instagram und wie sie alle heißen, durchaus damit zusammenhängt, dass sie Spaß machen. Der Kurs zum Social Media Manager hat mir eindeutig vermittelt, dass der Spaß irgendwann aufhört, weil „too much“ digitale Community und „too much“ Posting-Strategie auch das lustigste Youtube-Video zur langweiligen Tortur machen.  Mir steht es zu dem Zeitpunkt schon bis zum Hals. Das Fass läuft über, als ich den Bühnentalk zum Thema Augmented Reality höre.

WTF is Augmented Reality!?

Augmented Reality, die Erweiterte Realität, ist der letzte Schrei in der Medienwelt. Darunter versteht man die Einblendung von computergenerierten Zusatzinformationen in reale Bilder oder Videos. Konkret heißt das, dass man seine Ikeamöbel schon vor dem Kauf in die Wohnung stellen kann, oder dass im Supermarkt ein Spiderman aus der Cornflakesschachtel springt. Hierzu ein Video:

Die Süddeutsche Zeitung hat, ganz fortschrittlich, schon vor Jahren einmal ein Magazin mit dieser neuen Technologie bestückt, mit der Überschrift: „Unser Heft lebt“. Da erscheinen plötzlich Denkblasen über den Porträtfotos, eine Wiese verwandelt sich in einen Parkplatz oder Grafiken steigen in 3D aus dem Heft heraus. Um nicht ständig Smartphone oder Notepad in der Hand halten zu müssen, eignet sich ein Device wie die Google Brille am vorzüglichsten, um freihändig in der erweiterten Wirklichkeit zu leben. Die Augmented Reality scheint (bis jetzt) die Krönung der digitalen Evolution zu sein. Wahrscheinlich wird sie in unser Leben genauso Einzug halten, wie Google, Facebook und Co.

Reality bites

Geht eigentlich noch irgendjemand vor die Tür ohne die Absicht, die Fotos später zu posten und alle neidisch zu machen? Jetzt können wir auch die Realität noch besser und bequemer machen. Wir können sie komplett neu erfinden, wie das Beispiel der Studentin zeigt, die mehrere Wochen lang ihrem Sozialen Netzwerk einen Asien-Urlaub vorgetäuscht hat. Warum nicht in Urlaub fahren und schon vorher wissen, dass er toll wird, ohne Magen-Darm-Probleme, Autopannen und Taschendiebe. Ja, die Realität tut eben manchmal weh.

Würde man die Buschmänner Stanley und Isaak fragen, könnten sie sicher bestätigen, dass eine stundenlange Antilopenjagd in der prallen Sonne nicht zum angenehmsten Zeitvertreib gehört. Das hat auch Felix Meinhardt gemerkt, er war ja dabei und hat die Jäger gefilmt. Trotzdem ist er begeistert. Zu seinen Bildern hat er einen Text geschrieben. Darin steht etwas wie, es sei für ihn eine horizonterweiternde Erfahrung gewesen, ganz am basalen Leben und so schön weit weg von der schnelllebingen Gesellschaft, dirigiert von Trends und Branchen. Ich glaube, viele der Messebesucher beneiden ihn insgeheim darum.

Ganz ehrlich, müssen wir alle erst in die Kalahari fahren, um einmal wieder zu erfahren, was Realität bedeutet? Oder könnte man einen Kompromiss finden, das Smartphone mal zuhause lassen und zum Beispiel einen Spaziergang im Wald nur für sich selbst erleben? Ich werde ab jetzt kein schlechtes Gewissen mehr haben, wenn meine digitale Pinnwand tage- oder wochenlang unberührt bleibt, egal wie viele Erinnerungen Facebook mir schickt.