Als Orchon meinte, der Weg zu den Mineralquellen sei schwierig, hat er nicht übertrieben. Der Ausdruck „unwegsames Gelände“ hat selten so gut gepasst wie hier. Wir sind in den Bergen um den Tsagaan Nuur, den „Weißen See“ in der Arkhangai-Provinz, im Zentrum der Mongolei. Orchon ist der Bergführer einer dreitägigen Pferdetrekking-Tour zum „Arshan“, einem heiligen Ort nordöstlich des Sees.
In den letzten Tagen hat es viel geregnet und die Pferde versinken bis zu den „Knien“ im aufgeweichten Boden. Als wir die Sümpfe hinter uns haben, geht der Weg weiter durch dichte Wälder und hohes Gestrüpp. Das Pferd stören die Äste vorm Gesicht nicht, es nimmt sogar ab und zu einen Bissen mit. Ich dagegen versuche ständig mit einer Hand das Grünzeug aus dem Weg zu schieben. Es gelingt mir nicht immer, ab und zu bleibe ich mit meinem großen Rucksack in den Bäumen hängen. Das gutmütige Pferdchen hält dann an und wartet bis ich mich befreit habe.
Mein Pferd ist, ganz typisch-mongolisch, ein Brauner mit Stoppelmähne. Sein Widerrist reicht mir gerade bis unter‘s Kinn. Die untere Hälfte seiner Hinterbeine ist weiß, weshalb es gut von den anderen Pferden im Camp zu unterscheiden ist. Einen Namen hat es nicht, aber es ist gut trainiert und folgt meiner Körperdrehung. Die Zügel brauche ich fast gar nicht.
Orchon reitet einen Schecken, gleichzeitig führt er das Packpferd. Manchmal bleibt es bockig stehen, dann zieht Orchon am Seil und ruft: „Shu! Shu!“ Weil es auch dann selten weiter läuft, soll ich hinter ihm bleiben und das sture Tier antreiben.
Der kaum sichtbare Pfad durch den Wald endet und wir müssen hinauf zum Gipfel über Steine und Geröll. Ich hatte mir die Mongolei eigentlich als flache Steppe vorgestellt, aber es gibt viel Fels- und Berglandschaft. Rund um Ulan Bator hält bereits der Klettersport Einzug. Allgemein befindet man sich ziemlich hoch über dem Meeresspiegel und in den Bergen bewegen wir uns zwischen 2000 und 3000 Metern, also etwa auf Alpenhöhe. Ich hatte vor, alleine von Tsagaan Nuur nach Uliastai zu reiten. Das Zentrum der Zavkhan-Provinz liegt etwa 400 Kilometer nord-westlich des Sees. Dass der Weg größtenteils über‘s Gebirge führen würde, hatte ich bei meinen Überlegungen nicht berücksichtigt. Nun kommen die ersten Zweifel auf.
Die Pferde steigen sicher über die Geröllbrocken. Ich mache mir Sorgen, dass sie sich an den scharfkantigen Steinen verletzen könnten, aber an den Fesseln ist nachher nichts zu sehen. Orchon reitet auch die steilste Passage. Ich soll nicht absteigen, aber das Pferd tut mir leid. Ich höre es unter der Anstrengung schnaufen. Trotzdem steigt es zielstrebig den Hang hinauf. Die mongolischen Pferde mögen zwar klein sein, aber ihre Trittsicherheit und Ausdauer sind beeindruckend. Den Berg hinunter führen wir die Pferde, zum Reiten ist es hier zu steil.
Auf der gesamten Strecke überqueren wir einige Gebirgsbäche, deren Wasser den Pferden bis zum Bauch reicht. Meine Schuhe werden nass, aber das Gepäck bleibt trocken. Jedenfalls solange, bis es anfängt zu regnen.
Das Tal ist eine weite, grüne Flachebene. Mit den Bergkämmen auf beiden Seiten bietet es einen umwerfenden Anblick. Wenn man genauer hinsieht, ist der Boden voller Löcher. Hier lebt das Volk der Zorm: kleine Erdhörnchen, die vor uns blitzschnell von einem Loch zum anderen huschen. Wenn ich sage, die Tiere kommen flächendeckend vor, dann ist das keine Übertreibung. Zumindest sind die Greifvögel hier gut genährt und erreichen eine beachtliche Größe. Ein Adler der unmittelbar vor uns abhebt, hat eine Spannweite von vier bis fünf Metern.
Mein Pferd hat die Anstrengungen des Bergsteigens bereits vergessen und trabt fröhlich vor sich hin. Ich mache mir Sorgen wegen der vielen Löcher im Boden, aber es setzt seine Hufe gekonnt daneben. Wieder bin ich beeindruckt.
Als wir die Heilquelle „Arshan“ erreichen, bin ich allerdings etwas enttäuscht. Es ist kein ehrwürdiger Ort, versteckt in den Bergen, sondern ein Campingplatz für mongolische Touristen. Das Camp hat neben den üblichen Jurten auch eine Reihe Holzhütten. Da es in der Gegend viel Wald gibt, wohnen die Leute oft auch in diesen kleinen Blockhütten.
Ich weiß nicht, was es mit dem Holz hier auf sich hat, aber es ist teilweise schwierig zum Brennen zu bringen. Vor allem in den kleinen Öfen in den Jurten geht es nicht ohne vorheriges Schnitzen und viel Pusten. Bei den Mongolen geht es allerdings ruckzuck.
Kaum sind wir angekommen, wuseln viele Leute um uns herum. Jemand nimmt mir die Zügel aus der Hand und kümmert sich um das Pferd. Das heißt, er schlägt einen Pfahl in den Boden und bindet den Zügel an ein etwa zehn Meter langes Seil, damit das Pferd über Nacht nicht weglaufen kann.
Orchon kennt eine Familie, die hier Urlaub macht. Wir werden in die Hütte eingeladen und sobald ich sitze, bekomme ich eine Schale mit salzigem Milchtee in die Hand gedrückt – der wird überall in der Mongolei serviert. Ich verstehe kein Wort von der Unterhaltung. Orchon spricht kein Englisch und kann nicht übersetzen. Daher erfahre ich keine Details über die Frau, die gerade mein Essen zubereitet oder ihre Familie. Die Frage, ob ich Russisch könne, muss ich leider verneinen. Manchmal schlagen wir ein Wort nach, in dem kleinen PONS-Wörterbuch, das ich mir in Ulan Bator gekauft habe. Meistens bleibt mir aber nichts anderes übrig, als schweigend in der Ecke zu sitzen und zu essen was mir in die Hand gedrückt wird.
Die Schüssel ist bis zum Rand mit heißer Nudelsuppe gefüllt. Als ich zum Besteck greifen will, verschütte ich natürlich die Hälfte und verbrenne mir die Hand. Sofort werden Stuhl und Tisch herbei getragen, da ich anscheinend erst richtig essen lernen muss – wie die kleinen Kinder.
Als es dunkel wird, lege ich mich endlich ins Zelt zum schlafen, der Tag war mehr als anstrengend. Allerdings friere ich in meinem -7°C Schlafsack die ganze Nacht durch – ohne Skiunterwäsche geht es hier nicht. Die liegt zuhause in Deutschland, zusammen mit meiner Regenhose.
Was das Wetter angeht, bin ich also zu spät dran. Im August, dachte ich, wäre hier noch Sommer, aber es wird bereits Herbst. Einige Tage später sollte es sogar hageln. Wieder ein Grund an meinem Vorhaben zu zweifeln, habe ich doch keine Ausrüstung für Minusgrade mitgebracht. Die einzigen Outdoor-Outfitter gibt es in der Hauptstadt, in den Aimag-Zentren ist die Auswahl an Kleidung begrenzt.
Am nächsten Tag ist es wieder brütend heiß. Wir lassen die Pferde im Tal grasen und steigen zu Fuß hinauf zu den Heilquellen. Auf dem Weg treffe ich ein Mädchen, Anfang 20. Sie spricht ein wenig Englisch und wir unterhalten uns. Sie ist Grundschullehrerin und lebt in der Gobi-Wüste. Ihr Name scheint für mich unaussprechlich, aber übersetzt bedeutet er „Feuerblume“. Mit Onkel, Tante und einigen anderen Familienmitgliedern macht sie zum ersten Mal in der Arkhangai-Provinz Urlaub. Sie erklärt mir, dass die untere Quelle gut ist für Magenprobleme, die obere für Herzleiden. Als ich trinke, gefriert mir erst mal die Stirnhöhle von dem eiskalten Wasser, das direkt aus dem Gestein kommt.
Vor uns ragt ein großer, flacher Stein aus dem Boden. „Das ist der Mutterstein. Er hat eine heilende Wirkung, wenn man ihn berührt“, erklärt Feuerblume, „zumindest sagen das die alten Leute.“ Meinen, vom vielen Reiten geschundenen Hintern, hat er allerdings nicht geheilt und ich war lange drauf gesessen.
Bevor wir an diesem Morgen weiter reiten, zeigt mir Orchon im Wörterbuch das Ziel des heutigen Tages: Wir besuchen die nomadischen Viehzüchter.
In der Flachebene zwischen den Gebirgsketten, die wir schon am Vortag durchquert haben, tauchen schon die ersten Blockhütten auf. Eine ältere Frau winkt und ruft Orchon etwas auf mongolisch zu. Wir binden die Pferde an einen Holzstamm, der genau für diesen Zweck vor jeder Hütte steht. Dann gehen wir hinein. Wieder gibt es den salzigen Milchtee. Zusätzlich aber auch noch selbstgemachten Käse„Beslac“, eine breiige Milchspeise „Urm“ und getrockneten Joghurt „Arut“. Ich habe schon viel über das Essen in der Mongolei gehört, wenig Gutes. Beim Probieren dachte ich mir: „So schlimm ist es doch gar nicht.“ Hinterher gab es noch selbstgebrannten, klaren Schnaps aus fermentierter Stutenmilch „Erg“. Den gibt es auch als milchige Variante mit etwa zwei Prozent Alkohol. Der Geschmack mag ja gewöhnungsbedürftig sein, aber nach tagelangem Entzug denkt man sich nur: „Hauptsache Schnaps!“
In dem Moment kommen die beiden Töchter der Bäuerin herein. Sie haben einen Eimer voller Blaubeeren dabei, die sie im Wald gepflückt haben. Natürlich werden sofort Kostproben angeboten. Die Ältere der beiden spricht ein wenig Englisch und erzählt, dass sie in Ulan Bator Modedesign studiert. Die Sommerferien verbringt sie bei ihrer Familie auf dem Land. Das gilt übrigens für viele junge Mongolen, die ich hier getroffen habe. Sie kommen ursprünglich aus ländlichen Gegenden, sind aber zum Studieren in die Hauptstadt gezogen.
Frisch gestärkt reiten wir weiter. Nach etwa zehn Minuten kehren wir wieder ein. Natürlich gibt es wieder viel zu essen. Diesmal fleischgefüllte Maultaschen, frittiert in heißem Fett. Ich habe herausgefunden, das Fleisch von Rind oder Yak schmeckt besser als das von Ziege oder Schaf. Grobe Fettbrocken und Knorpelchen sind aber überall drin.
Auch wenn es schmeckt, irgendwann kommt der Punkt an dem einfach nichts mehr rein geht – für die Mongolen eine schier unverständliche Tatsache. „Eat, eat!“ heißt es und dann gebietet es die Höflichkeit wenigstens noch ein paar Bissen zu nehmen. In einem Reiseführer habe ich gelesen man kann auch symbolisch abbeißen. Das habe ich mich noch nicht getraut, da ich mir fast sicher bin, dass sie mich dann für verrückt halten.
Besonders sympathisch fand ich die elfjährige Terama, die wie ein Junge auf dem Pferd angeritten kommt. Im Haushalt ist sie etwas tollpatschig und wird von ihrer Mutter oft zurecht gewiesen. Ich weiß nicht, ob sie einfach noch nicht alt genug ist oder, ob sie einfach nicht interessiert ist, am Essen zubereiten und Kochen. Für‘s Volleyball spielen draußen ist sie Feuer und Flamme. Ich stelle fest, ein beliebter Sport unter den Mongolen. Leider nicht so ganz mein Steckenpferd, aber irgendwie haben wir’s hinbekommen, den Ball nicht allzuoft im Kuhmist zu versenken
Letzten Endes waren die selbstgemachten Speisen der mongolischen Viehzüchter doch etwas „ungewohnt“ für das westliche Verdauungssystem. Das hat sich ein paar Stunden später herausgestellt, als ich gar nicht schnell genug auf die, 200 Meter entfernte, Toilette kommen konnte. Die hätte ich übrigens fast übersehen, weil die dreiteilige, türlose Außenwand auf Hüfthöhe reduziert war..
Ich bin müde, die Nächte sind kalt und man deutet mir, ich solle mich doch in der Jurte schlafen legen. Irgendwann nachts wache ich auf und um mich herum sitzen haufenweise Leute. Wo sind die denn jetzt hergekommen?
Für die Mongolen ist der „Personal Space“ keine große Notwendigkeit, lebt und schläft die ganze Familie doch zusammen in einem Raum. Der Europäer allerdings ist an ein eigenes Zimmer für sich alleine gewohnt. Daher ist es wohl verständlich, dass die Situation nicht die Angenehmste war. Versuche nach draußen ins Zelt zu flüchten, wurden allerdings entschlossen unterbunden: „Das ist zu kalt, du wirst krank!“
Der Rückweg zu Kishigs Jurtenlager am Weißen See fühlte sich nicht mehr so anstrengend an. Die Pferde wussten, dass es nach Hause geht und legten ein entsprechendes Tempo vor.
Im Nachhinein war der Trip eine sehr lehrreiche Erfahrung. Vor allem das Wetter macht mir Bedenken. Eine Trekking-Tour alleine nach Uliastai würde ein schwieriges Unterfangen. Aber noch habe ich den Plan nicht aufgegeben und sehe mir abends noch einmal die Strecke auf der Karte an.
Reisetipp: Karten der ganzen Mongolei im Maßstab 1:500000 gibt es im Outdoorgeschäft Seven Summits an der Peace Avenue in Ulan Bator. Dort spricht man auch Englisch. Der Laden bietet ziemlich viele importierte Markenartikel an, ist deshalb aber ziemliche teuer. Was die Karten betrifft, kauft man am besten durchsichtiges Klebeband im Supermarkt und macht das Papier wetterfest.
Ein weiterer Zweifelfaktor für meinen Trip sollte am nächsten Tag dazu kommen. Ich wollte alleine in die nächstgelegene Stadt reiten, um Geld für Pferde und Sättel abzuheben. Tariat liegt etwa zehn Kilometer vom See entfernt und motorisierte Transportmöglichkeiten sind schwierig aufzutreiben.
Der Schimmel, den ich reiten sollte, war nicht sehr kooperativ. Am Abend zuvor habe ich beobachtet, wie ein betrunkener Mongole sehr ruppig aufsteigen wollte. Da hat sich das Pferd rabiat gewehrt, mit Zähnen und mit Hufen. Anscheinend hat es seither beschlossen, dass es fremde Menschen nicht mag und bei allen anderen auch so reagiert. Mit viel Geduld und Mühe saß ich dann drauf, aber wie die Mongolen kann ich eben nicht mit den Pferden umgehen. Den Ausflug in die Stadt habe ich am Ende mit dem lieben Braunen gemacht. Wenn ich also alleine eine Trekkingtour machen will, dann würde ich ein „zahmes“ Pferd brauchen. „Zahm“ kostet hier extra.
Lange Rede, kurzer Sinn: Am Ende hat der Kostenfaktor den Plan gekillt. 2.5 Millionen Tugrik (etwa 1250 Euro) für zwei gute Pferde und Sättel habe ich nicht übrig. Momentan sind die Viehpreise hoch. Oogi hat es so erklärt, dass durch eine Dürreperiode vor einigen Jahren viele Tiere umgekommen sind. Die wenigen, die übrig sind, seien eben teurer. Jemand anderes hat gesagt, es liege an der Wirtschaftslage allgemein. Nur zum Vergleich, ein gutes Motorrad kostet hier etwa 1.2 Millionen Tugrik. Die Geschichte vom Motorradfahren im Eisregen erzähle ich später.
Da es schon das Ende der Saison ist stehen die Chancen schlecht, dass ich die Pferde an andere Reisende für den gleichen Preis wieder verkaufen kann. Und sogar dieses finanzielle Risiko hätte ich vielleicht auf mich genommen, aber Geldabheben mit meinen Bankkarten funktioniert immer noch nicht. Also gebe ich mich geschlagen und gehe zurück nach Ulan Bator. Vielleicht ein andermal, ich habe schon von Leuten gehört, die sich Pferde in der Mongolei gekauft haben. Es ärgert mich, dass es nicht geklappt hat. Da muss ich mir eben andere Dummheiten einfallen lassen.
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