Wer auf Schmerzen steht und mal so richtig verprügelt werden will, dem rate ich mit einem alten sovjetischen Schlepplift zu fahren. Ein bisschen dumm anstellen muss man sich schon und ein Snowboard hilft, ist aber nicht zwingend.
Wie in einem schlechten Horrorfilm fängt alles mit Sonnenschein an: Neuschnee Ende März, mindestens 20 Zentimeter Powder – Wetterverhältnisse wie seit 86 Jahren nicht mehr, sagt das Radio. Natürlich gehen meine Bischkeker Freunde zum Skifahren. Trotzdem habe ich schon am Vormittag ein mulmiges Gefühl im Magen. Zwei Tage später würde der Fotograf anreisen für unser Freeride-Projekt. Wenn mir oder dem Splitbord etwas passiert, ist der Zweck meiner Kirgistan-Reise hinfällig. Der Kopf sagt: Ja, aber Neuschnee!!! Sonne!!! und gewinnt schließlich. Ich gehe mit.
In den Bergen angekommen bereue ich meine Entscheidung noch nicht. Die Aussicht und die Schneeverhältnisse sind traumhaft. Ak Tash heißt die Region, nach dem Skigebiet Kashka Suu, etwa 30 Minuten von Bischkek entfernt. In Kashka Suu gibt es Sessellifte, aber Insider gehen nach Ak Tash, das aus vereinzelten Schlepplift-Stationen besteht.
Außer uns ist niemand da, der Lift steht noch. Wir gehen zur Behausung des Liftwarts, um uns anzumelden und Tickets zu kaufen. Der alte Mann bittet uns freundlich herein und unterhält sich mit meinen Freunden auf Russich. Ich verstehe nicht viel, aber merke, dass es Probleme gibt.
Zwei von uns fahren Ski, die anderen beiden Snowboard. Mit den Boards möchte er uns nicht auf den Lift lassen, zu gefährlich, sagt er. Ich, die europäischen Schlepplifte gewöhnt, denke: „Der soll sich nicht so anstellen, schlimmstenfalls fällt man raus“. Aber es ist nichts zu machen. Entweder wir leihen uns Skier aus oder fahren woanders hin, sagt der Kirgise. Wir entscheiden uns für Letzteres.
Wie das Leben so spielt, ist der einzige Schlepplift, an dem man uns mit den Snowboards fahren lässt, der Gefährlichste. Während alle anderen Lifte im Gebiet Teller- oder T-bar-Lifte sind, funktioniert dieser nach einem alten System: Beim Kauf der Liftkarten bekommt man ein Seil. An einem Ende hat es ein Holzstöckchen zum Draufsetzen, am anderen Ende einen Haken, um sich an das Schleppseil zu hängen. Soetwas habe ich bis dahin noch nie gesehen.
Und natürlich kommt, was kommen muss. Hätte ich doch nur auf meinen Bauch gehört. Der schreit nämlich die ganze Zeit, während mich der Lift hochschleppt: „Falsche Entscheidung!“ Ich habe es zwar geschafft, mir das Seil zu angeln, doch auf dem Weg nach oben fällt mir ein, dass ich nicht weiß, wie ich wieder raus komme. Ich kann nämlich das Seil nicht einfach loslassen, weil ich es für die nächste Fahrt wieder brauche. Also rufe ich meinem Kumpel, dem Australier Patrick zu, wie man da wieder rauskommt. Patrick sitzt ein Stück weiter oben neben der Liftspur – er ist unfreiwillig ausgestiegen. Dann passiert alles ganz schnell. Ich passe nicht auf, mein Bord stellt sich seitwärts. Patrick schreit: „Lass los!“ Zu spät, das Bord ist am Pfosten hängen geblieben, durch den Widerstand rutscht der Haken zurück und das Seil wird von der Umlenkrolle gefressen. Im Bruchteil einer Sekunde hänge ich – Kopf nach unten, vom Seil eingewickelt, wie eine eingeschnürte Fledermaus am Pfosten. Das Seil zieht sich immer enger, ich glaube, es wird mir alle Knochen brechen. „Goodbye Freeride-Trip“, denke ich. Die Rettung: Noch bevor das Personal den Lift anhält, löst sich wie von Geisterhand der Schnürsenkel am Snowboardstiefel und gibt meinen Fuß frei. Ich falle nach unten, zwar auf den Kopf, aber das ist in dem Fall das kleinere Übel.
Nochmal zum Mitschreiben: Der Unfall wird deshalb durch Snowboards begünstigt, weil es mit Skiern leichter ist weit, weit links von den Pfosten zu fahren. Trotzdem hätte auch ein Ski hängen bleiben können, mit dem gleichen Resultat.
Mit Schmerzen in den Beinen und dem rechten Arm fahre ich ab. Der Schnee ist großartig und ich ärgere mich, dass es meine einzige Abfahrt heute sein wird, die Schmerzen sind kaum auszuhalten. Unten an der Liftstation kühlen wir die Hand, meine Freunde bestellen mir Vodka und drücken mir zwei Pillen in die Hand. Ich spüle sie mit dem Wodka hinunter ohne nachzufragen. Es ist Ketonal, ein Schmerzmittel.
Ob die Hand gebrochen ist, oder nicht, wissen wir nicht – also kein Grund schon ins Krankenhaus zu fahren. Die anderen gehen wieder zum Skifahren und lassen mich mit den Tabletten und dem Wodka zurück an der Liftstation. Etwa zwei Stunden später ist meine Laune prächtig und ich schließe Freundschaft mit einem streunenden Hund, von dem ich überzeugt bin, dass er mein Seelenverwandter ist. Als sich schließlich noch jemand anderes aus unserer Gruppe bei einem Sturz das Schlüsselbein bricht, fahren wir schließlich zurück nach Bischkek. Leider war das der Fahrer, alle anderen sind betrunken. Ich weiß nicht mehr wie genau, aber irgendwann sind wir zurück in Bischkek. Und da fängt der Spaß erst an.
Fahren wir zuerst heim oder ins Krankenhaus, wer kennt einen guten Arzt? Es müssen einige Telefonate geführt werden. Ich stehe daneben, immer noch traurig darüber, dass wir den Hund nicht mitgenommen haben.
Es ist 5 Uhr abends, wir schaffen es gerade noch zum Röntgen. Dazu geht man ins Krankenhaus, stellt sich an, zahlt drei Euro und bekommt ein Röntgenbild der gewünschten Stelle. Danach kann man wieder gehen und damit machen was man will. Eine neue Freizeitaktivität für alle, die immer schon wissen wollten, wie es in ihrem Inneren aussieht.
Auf dem Röntgenbild erkennt man zum Glück keinen glatten Bruch, aber soll der Knochen da am Handgelenk so abstehen? Wir wissen nicht weiter und beschließen doch einen Arzt zu fragen. aber es ist mittlerweile 7 Uhr abends, woher einen Arzt nehmen. Nach weiteren 20 Minuten hat meine Freundin Katja einen Arzt organisiert. Wir holen ihn in einer Kneipe ab und fahren ihn zu seiner Praxis. Dort zieht er einen weißen Kittel an und behandelt uns – Katja hat sich vor ein paar Wochen das Kreuzband gerissen und dachte, wo sie schon mal da ist…
Wir bekommen zwei Plastikgipsverbände zum Preis von einem. Der deutsche Arzt zwei Wochen später sollte große Freude daran haben, mir das Ding wieder abzunehmen. Das geht mit den hiesigen Gipssägen gar nicht so leicht und das Plastik wird heiß.
Am Ende haben wir den Freeride-Trip doch durchgezogen, auch wenn es mit dem Gipsarm und den vielen Prellungen nicht immer einfach war. Unter dem Schnitt am Knie verbirgt sich übrigens ein riesiger Bluterguss, den ich jetzt, fast zwei Monate nach dem Unfall immer noch spüre – ein schönes Souvenir vom „Schlepplift aus der Hölle“.
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